Die Insel der Orchideen
spazierenden europäischen Kaufleuten, von denen sie auf keinen Fall erkannt werden durfte.
Auf Leahs Bitte hin hatte Onkel Koh das Äffchen von seiner Kette gelöst. Es nutzte die Freiheit, in den schwindelnden Höhen der ebenfalls am Strand wachsenden Kokospalmen herumzuturnen. In gleichmäßigem Rhythmus spuckte Onkel Koh erst blutroten Betelsaft vor sich in den Sand und warf dann besorgte Blicke nach oben, bis Leah ihn beruhigte.
»Er kommt wieder, Onkel. Deinem Affen geht es viel zu gut bei dir, als dass er davonlaufen würde.«
»Natürlich kommt er wieder. Es geht mir vielmehr um …«
Ein triumphierendes Kreischen, gefolgt von dem dumpfen Aufprall einer mehr als kopfgroßen, leuchtend grünen Kokosnuss unterbrach ihn. Er zeigte mit dem Daumen auf die kaum zwei Meter neben ihnen liegende Nuss. »Darüber mache ich mir Sorgen.«
Leah war bleich geworden. »Das war knapp.«
»Ich habe das Äffchen einem Plantagenarbeiter abgekauft, als es schon erwachsen war. Er hatte es zum Kokosnusspflücken abrichten wollen, aber es ist nicht groß genug geworden. Für diese Art von Arbeit brauchst du starke Makakenmännchen, nicht so ein zierliches Geschöpf wie meinen kleinen Languren.« Er stand auf und holte die trotz des Falls aus mindestens zehn Meter Höhe unversehrt gebliebene junge Nuss. Das Langurenäffchen raste den Stamm herunter und sprang auf seinen Arm. Stolz trommelte es auf die grüne Hülle. »Der Mann scheint allerdings ein guter Lehrer gewesen zu sein«, sagte Onkel Koh lachend und tätschelte das graue Köpfchen.
Leah stand auf und lieh sich in einem der nahen Läden ein großes Parang-Messer. Zurück am Strand hieb sie der Nuss mit geübten Schlägen einen Deckel ab.
»Lim hat es mir beigebracht«, bemerkte sie auf Koh Koks erstaunte Miene hin und überließ ihm die Kokosnuss. Er nahm einen tiefen Zug von dem säuerlichen Wasser im Inneren und gab sie Leah zurück. Als sie ausgetrunken hatten, brachte Leah das Messer zurück und half ihrem väterlichen Freund auf die Füße.
»Ich möchte im Tempel Räucherstäbchen für meine Schwester entzünden. Sie braucht dringend ein wenig Glück in ihrem Leben. Das Beten in der Kirche hat bisher nichts gebracht.«
»Dein Gott wird es nicht gern sehen.«
»Warum nicht? Wenn er alles geschaffen hat, dann auch euch Chinesen mit eurem ganzen Aberglauben.«
»Du solltest deinen Glauben ernst nehmen, Xue Yan. Und unseren auch.«
»Keine Sorge, verehrter Onkel, das tue ich sehr wohl, auch wenn es manchmal nicht den Anschein hat. Mein Vater hat mich Toleranz gelehrt, und wer bin ich, zu werten, was gut oder schlecht ist, richtig oder falsch?«
Es war bereits dunkel, als Leah endlich den Heimweg antrat. Nachdem sie ihr Rauchopfer dargebracht hatte, waren sie und Koh Kok noch lange im Tempel geblieben. Leah hatte die Betenden skizziert und zwei schnelle Portraits des Priesters angefertigt, eines für ihn, eines für sich. Onkel Koh und sie hatten sich angeregt über dieses und jenes unterhalten. Ebenso wie sie an der chinesischen Lebensweise interessiert war, rätselte er über die Eigenarten der Europäer.
Nun hastete Leah auf die Brücke zu. Sie war viel zu spät dran und musste sich dringend eine Ausrede für Johanna und die Mutter einfallen lassen. Wenn alles gut lief, konnte sie sich ungesehen ins Küchenhaus schleichen und mit Lim eine Geschichte zurechtlegen. Nach langem Abwägen hatte sie ihn vor einigen Monaten in ihr Geheimnis eingeweiht, und obwohl er große Bedenken gegen Leahs Ausflüge hatte, hielt er ihr doch den Rücken frei. Er hatte sich sogar schon mit Onkel Koh getroffen, um sich zu vergewissern, dass sich Leah in anständiger Gesellschaft befand. An manchen Tagen ärgerte sie sich schwarz über seine Bevormundung, war er doch kaum zehn Jahre älter als sie. Andererseits mochte sie ihn gern und schätzte ihn als Verbündeten.
Um nichts in der Welt hätte sie die gestohlenen Nachmittage mit dem Geschichtenerzähler missen wollen. Er konnte vieles berichten und erklären, gab allerdings kaum etwas Persönliches preis. Leah hatte immerhin herausgefunden, dass er aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Amoy stammte. Wegen eines tragischen Vorkommnisses, über das er nicht sprechen mochte, hatte er China mit zweiundzwanzig Jahren verlassen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit dem Erzählen der alten Geschichten und der chinesischen Klassiker, von denen er zu Leahs Erstaunen viele studiert hatte. Seine Reisen hatten ihn überall
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