Die Insel der Orchideen
Leben war sie sprachlos.
»Werde ich Sie wiedersehen?«, fragte er.
Abermals fühlte sie den Boden schwanken. Verwirrt klammerte sie sich an die Kutschentür. Er griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Leah wich zurück.
»Besuchen Sie jeden Mittwochnachmittag den Tempel der Ma Chu P’oh«, sagte sie. Ihre Stimme klang kratzig. »An einem der Tage wird es mir möglich sein, ebenfalls dorthin zu kommen.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und eilte die Bras Basah Road hinauf, bog nach zweihundert Metern rechts ab und hastete auf den Bungalow zu. Mit wild klopfendem Herzen schob sie das Gartentor auf. Die Veranda war leer. Leah schlich mit angehaltenem Atem, die dunklen Schatten der Hibiskusbüsche ausnutzend, zur Ecke des Hauses, hinter der sich Lims Reich und ihr geheimer Einstieg ins Zimmer befanden. Sie hatte es beinahe geschafft, als ein schriller Ruf die Nacht zerschnitt.
»Leah! Komm sofort hierher!«
Leah überlegte kurz, ob sie sich taub stellen und einfach weitergehen sollte, blieb dann aber stehen.
»Wo warst du so lange? Ich habe Mrs Fergusson getroffen. Sie wusste nichts von einem Portraittermin.«
Leah trat in das aus der offenen Tür flutende Licht. Die Mutter schnappte nach Luft, als sie ihrer Tochter ansichtig wurde.
»Was ist passiert?«
»Ich wollte auf dem Government Hill zeichnen und bin auf dem Rückweg gestürzt.« Die Lüge kam ihr wie selbstverständlich über die Lippen. »Ich muss wohl das Bewusstsein verloren haben, denn als ich aufwachte, war es schon dunkel.« Da die Mutter das Licht im Rücken hatte, konnte Leah ihr Gesicht nicht erkennen, doch sie fühlte, dass sie ihr nicht wohlgesinnt war und die Geschichte wahrscheinlich auch nicht abnahm.
»Rein mit dir. Deine Wunden müssen mit heißem Wasser ausgewaschen werden.«
Leah verkrampfte sich. Ihre Mutter war oft streng, doch heute schien sich ihre Stimme direkt in ihre Haut zu beißen. Es musste etwas vorgefallen sein. Sie dachte an den Nachmittag, als sie das Haus verlassen hatte. Johanna hatte so wütend und gleichzeitig so traurig ausgesehen, während die Mutter von beidem nichts zu bemerken schien. Wahrscheinlich war es wieder um Bowie gegangen. Bisher hatte Leah wenig Verständnis für Johanna aufbringen können. In ihren Augen war der kernige Bowie ein fantastischer Tausch gegen Friedrich, den sie immer für einen rückgratlosen Blender gehalten hatte. Doch jetzt traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag. Sie hatte Johanna nicht verstehen können, weil das Wort Liebe für sie bisher nur ein hohles Wort bar jeglicher Bedeutung gewesen war. Das hatte sich nun geändert: Seit heute Abend war auch sie verliebt. Rettungslos verliebt.
* * *
Drei Tage später saß Johanna in ihrem Zimmer und zog zum hundertsten, nein, tausendsten Mal ihren Ring vom Finger und steckte ihn wieder auf. Ihre Augen brannten von den seit dem Morgen vergossenen Tränen. Sie konnte das Kleinod kaum noch erkennen und tastete verzweifelt über die kühle Oberfläche des großen Aquamarins. Friedrich hatte ihr den Ring zur Verlobung geschenkt, mit einem lustigen Zwinkern in den Augen, die von demselben Hellblau waren wie der Stein. Seine Mutter hätte ihm das Erbstück mit den Worten gegeben, er möge ihn eines Tages seiner Liebsten anstecken. Niemals hätte er geahnt, dass er sich schon so bald von dem Ring trennen würde.
Beinahe anderthalb Jahre waren seit ihrem Verlobungsabend vergangen. Anderthalb Jahre, die fast unbemerkt vorübergeflogen waren, angefüllt mit Sehnsucht, Hoffnung, Verzweiflung und zuletzt dem schlimmsten Gemütszustand von allen: Resignation. In einer bitteren Bilanz erkannte sie, dass mit dem Vater und Friedrich auch ihre Lebensfreude gestorben war. Sie fühlte sich ausgezehrt, müde, alt. Hinzu kam der Verlust des Familienvermögens. Nur noch wenige Monate würde es reichen, und sie musste bereits darüber nachdenken, Lim zu entlassen.
Damals, als Southampton, England, Europa hinterm Horizont versanken, war sie von unbändiger Zuversicht erfüllt gewesen. Die Welt gehörte ihr, die Wunder des Orients waren ein vages Versprechen von Abenteuer und Glück, das eingelöst schien, als sie mit Schmetterlingen im Bauch und Friedrich an ihrer Seite die zunehmend lauer werdenden Nächte an Deck der
Ganges
genoss. War sie zu hochmütig gewesen? Hatte sie das ihr so verschwenderisch zugeteilte Glück als zu selbstverständlich hingenommen? Und war es nicht auch Hochmut, die Hand nicht zu ergreifen, die sich ihr nun
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