Die Insel der Orchideen
entgegenstreckte, um ihr und ihrer Familie die Sorgen mit einem Streich zu nehmen?
Johanna stützte die Ellbogen auf den Sekretär und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Offensichtlich sollte sich ihr Schicksal hier, in der Hitze Singapurs, erfüllen. An der Seite von Ross Bowie. Lange saß sie so, taub für alles um sie herum.
Ein Brummen holte sie zurück. Leise nur, dann immer aufdringlicher bohrte es sich in ihre Ohren. Es musste ein Prachtexemplar von Käfer sein, das da seine Kreise in ihrem Zimmer flog. Unwillkürlich musste Johanna lächeln. Ihr war vieles genommen worden, und auch für Leah war der Verlust des Vaters einer Katastrophe gleichgekommen, doch die Tropen hatten ihnen auch einiges gegeben. Käfer zum Beispiel. Käfer in rauen Mengen, die von Leah mit Begeisterung, Akribie und Wissensdurst gefangen, studiert, präpariert, gezeichnet und katalogisiert wurden. Nicht genug damit, es gab Menschen, die sie ernst nahmen. Wie dieser Wallace, mit dem Leah, solange er in Singapur weilte, viele Stunden fachsimpelnd verbracht und der sie zu einigen Exkursionen in der Umgegend mitgenommen hatte. Soweit Johanna wusste, stand Leah nach wie vor in Briefkontakt mit ihm.
Der Käfer hatte die Tore ihrer Wahrnehmung weit aufgestoßen. Ohne das Gesicht aus ihren Händen zu lösen, lauschte Johanna auf Lims melodiöses Summen und das Trillern der Hirtenstare. Vom Nachbargrundstück drang lautes Knacken, gleich darauf setzte mehrstimmiges Gezeter ein. Die Diener jagten eine Affenbande von ihrem Grundstück, direkt in Lims Arme, der nun seinerseits zu schimpfen begann. Johanna hegte eine gesunde Furcht vor den Tieren. Sie waren frech, groß und stark, und sie erinnerte sich mit Schaudern an den Tag, als ein Makakenmännchen seine Familie vor einem chinesischen Gärtner verteidigt hatte. Der Affe hatte den Arm des Mannes regelrecht zerfleischt, und später hörte sie, er sei am Wundbrand gestorben. Trotzdem bereiteten die Tiere Freude, wenn man sie aus sicherem Abstand beobachtete. Ihr Tollen und Toben hatte etwas Drolliges und, wie Johanna im Stillen dachte, zutiefst Menschliches.
Sie lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete ihre müßig auf der Tischplatte liegenden Hände. Sie atmete mehrmals tief durch, dann zog sie den Aquamarinring vom Finger. In der Schublade ihres Nähtischchens fand sie eine kleine Blechschachtel, in der schon eine getrocknete Orchidee ruhte. Es war jene Blüte aus dem Garten der Goymour-Pension, die Friedrich ihr vor seiner Abreise nach Hongkong ins Haar gesteckt hatte. Sie legte den Ring dazu und verstaute die Schachtel wieder tief in der Schublade. Sie musste nach vorn blicken.
Dann tunkte sie die bereitliegende Feder ins Tintenfass und schrieb eine kurze Nachricht an Bowie, deren Sachlichkeit sie selbst erschreckte. Johanna sandte sie trotzdem ab. Bowie wusste von Friedrich und machte sich tunlichst keine Illusionen über die Gefühle seiner Zukünftigen.
* * *
Mit einem lauten Platschen fiel das Ruderblatt aufs Wasser. Friedrich zuckte in Erwartung einer Züchtigung zusammen. Nichts geschah. Beim nächsten Mal war er vorsichtiger, tauchte das Ruder behutsam ein und zog es lautlos durch die Wellen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als sich das Piratenboot, das erste in ihrer Flotte, leise wie ein Geisterschiff in die Flussmündung schob, einer von vielen Schatten vor dem tiefdunklen Spalier der Mangroven in dieser sternlosen Nacht. Eintauchen, ziehen, eintauchen, ziehen. Friedrich ergab sich dem stumpfen Rhythmus, der sein Leben seit sieben Monaten bestimmte. Sieben? Oder war er gar schon vor acht Monaten zum Rudersklaven der Piraten geworden? Er wusste es nicht, hatte das Zählen längst aufgegeben. Die Tage flossen ineinander zu einem zähen Brei des Elends. Wäre er doch bei der Eroberung der
Albatros
unter den Schlägen der Piraten gestorben, hätten sie ihm doch nur einen Dolch ins Herz gestoßen! Er wehrte sich gegen die Erinnerung, doch abermals stürmten die Bilder mit Macht auf ihn ein.
Nach dem Überfall war er auf einem der Piratenboote erwacht. Sein Kopf hämmerte wie eine Dampfmaschine, sein Körper war wie zerschlagen, doch als er sich vorsichtig abtastete, konnte er keine schwere Verletzung feststellen. Da niemand ihm Beachtung schenkte, setzte er sich langsam auf. Seine Fluchtgedanken fielen in sich zusammen, sobald er über die Bordwand blickte. Von den schnellen Taktschlägen der Ruderer angetrieben, hatte sich die Piratenflotte bereits wieder aufs
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