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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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traf. Erleichtert winkte sie einen leeren Palanquin heran. Ihr Herz klopfte noch immer bis zum Hals, als sie die Tür hinter sich zuzog. Die Straße war so verstopft, dass sie nur im Schritttempo vorankamen. Johanna ließ den Blick über die gekrümmten Rücken der Kulis, über konisch geformte Strohhüte, Warenstapel und Suppenküchen gleiten. Für sie hatte Singapur bisher hauptsächlich aus dem europäischen Viertel, den Prachtbauten am Nordufer des Flusses und dem Geschäftsviertel auf der gegenüberliegenden Seite bestanden. Die meisten Inder, Chinesen und Malaien, die sie kannte, waren Dienstboten. Schweigsame Geister, die zu ihr, in ihre begrenzte Welt kamen. Heute war sie zum ersten Mal zu ihnen gegangen, hatte zum ersten Mal mit eigenen Augen die beengten Verhältnisse wahrgenommen, in denen die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung lebte.
    Ein muffiger Gestank drang in die Kutsche. Johanna hielt sich die Hand vor die Nase und beugte sich aus dem Fenster. Die Kutsche passierte einen von großen Glasgefäßen voll in Alkohol schwimmender Schlangen flankierten Ladeneingang. Johanna erkannte den Laden sofort: Unter Leahs Zeichnungen hatte sich eine Abbildung dieser Häuserfront befunden, komplett mit den Gläsern und Schlangen. Und mit einem verhutzelten alten Mann davor.
    Aufgeregt hieß sie den Kutscher halten und trat durch die Tür. Hinter der Theke stand ein alter Chinese, der bei ihrem Eintreten leicht den Kopf senkte. Johanna gruselte der Anblick all der toten Tiere, dann riss sie sich zusammen und grüßte ihn ihrerseits.
    »Sprechen Sie Malaiisch?«, fragte sie.
    »Ja. Sie wünschen?«
    Johanna strich die mitgebrachte Zeichnung auf dem Tresen glatt. »Ich suche diesen Mann«, erklärte sie. Gespannt beobachtete sie den Alten, während er das Blatt studierte.
    Endlich richtete er sich auf. »Den habe ich nie gesehen.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Natürlich.«
    »Aber meine Schwester, die müssen Sie kennen. Leah Uhldorff. Sie sieht mir nicht ähnlich, ist klein und dunkelhaarig.« Johannas Stimme wurde immer schriller, doch ihr Gegenüber zuckte nicht mit der Wimper. Ihre Freude über die Entdeckung der Apotheke schlug in verzweifelte Wut um. »Sagen Sie mir die Wahrheit!«, rief sie. »Leah hat Sie doch gezeichnet. Das sind Sie auf dem Bild.«
    »Ich kenne keine reichen Mems. Hier kaufen nur Chinesen ein.« Der scharfe Unterton ließ Johanna aufhorchen. Es war unverkennbar, dass der Mann sie loswerden wollte. Noch einmal drang sie in ihn, beschrieb Leah bis ins Detail, erwähnte ihre Sprachkenntnisse, doch er blieb bei seiner Behauptung. Unverrichteter Dinge verließ sie schließlich den Laden und stieg in die wartende Kutsche. Sie kochte innerlich. Es war offensichtlich, dass der Alte Leah und ihren Chinesenfreund kannte. Sie würde den verstockten Kerl so lange traktieren, bis er mit der Sprache herausrückte. Notfalls kam sie jeden Tag wieder.
    * * *
    Seit der alte Frachtsegler im Morgengrauen den Hafen von Singapur verlassen hatte, rollte er leise und gleichmäßig in einer leichten Dünung. Leah hatte sich, gut verborgen hinter einer Wand aus Kisten und Kaffeesäcken, ein Lager hergerichtet. Hier wollte sie ausharren, bis sie in wenigen Wochen Hongkong erreichten, wo sie von Bord schleichen, das Grab des Vaters besuchen und dann in den großen Weiten Chinas für immer verschwinden konnte. Noch hatte sie keine Vorstellung davon, wie sie sich dort ihren Lebensunterhalt verdienen sollte, aber sie vertraute darauf, dass ihr Vater seine schützende Hand über sie hielt.
    Und wenn nicht? Trotzig zerrte sie an der Decke jenes englischen Matrosen, der sie gegen gute Bezahlung an Bord geschmuggelt hatte. Wenn alles schieflief, dann ging sie eben in China zugrunde.
    Ihre Gedanken sprangen unvermittelt zu Onkel Koh. Ihn würde sie vermissen, vermisste ihn schon jetzt. Beinahe hätte sie es sich anders überlegt am gestrigen Abend, sich in seinen Armen den Schmerz von der Seele geweint. Doch die Erleichterung wäre nur von kurzer Dauer gewesen, und danach hätten die Geister Boon Lees und ihrer toten Tochter sie umso heftiger bedrängt. Sie musste fort, um nicht von ihnen erstickt zu werden.
    Leises Scheppern riss Leah aus ihrem Grübeln. Ein grauer Schein durchdrang die Finsternis im Bauch des großen Segelfrachters, als die Luke geöffnet wurde. Vorsichtig richtete sie sich auf und spähte über die Kisten, die ihr Versteck tarnten. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die katzenhaften Bewegungen des

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