Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
Vom Netzwerk:
hatte weder Johannas Schmuck noch den der Mutter angerührt, jedoch einiges Tafelsilber sowie das komplette Haushaltsgeld für die nächsten Wochen mitgenommen. Johanna stöhnte auf. Die Mutter und Friedrich würden toben.
    Zurück in Leahs Zimmer setzte sie sich auf die Bettkante. Vornübergesunken presste sie die Fäuste an die Schläfen. Was hatte Leah vor? Bei wem würde sie Zuflucht suchen? Einer Eingebung folgend riss sie die Schranktür auf und nahm einen dicken Packen Zeichnungen heraus. Schnell blätterte sie den Stapel durch, bis sie das gesuchte Bild gefunden hatte. Nachdenklich studierte sie das Portrait des älteren Chinesen, das sie schon vor vielen Monaten so beeindruckt hatte.
    Johanna sprang auf. Um das Schlimmste zu verhindern, musste sie schnell handeln. Friedrich arbeitete im Kontor, und ihre Mutter verbrachte wie üblich den Donnerstagvormittag im Convent of the Holy Infant Jesus. Wenn alles gutlief, konnte sie Leah zurückbringen, bevor die anderen von ihrer Abwesenheit erfuhren. Leider war auch Lim heute nicht da, denn mit ihrem und Friedrichs Segen hatte er einige Tage freibekommen, um Freunden beim Bau eines Hauses irgendwo am Stadtrand zu helfen. Wie sie vermutete, hatte er Leahs Alleingänge gedeckt, wahrscheinlich wusste er sogar, wo sie sich aufhielt.
    Sie rollte das Portrait des Chinesen zusammen und ging nach unten. Im Schatten des Tamarindenbaumes saß Ping, die neue Kinderfrau. Johanna hatte die freundliche Chinesin als Ersatz für Barsha eingestellt, die kurz nach Leahs Totgeburt davongelaufen war. Gerührt beobachtete sie vom Salonfenster aus, wie Hermann versuchte, sich am Arm der geduldigen Ping hochzuziehen. Seit er krabbeln konnte, war er mit Feuereifer dabei, die Welt zu erobern, und jetzt hatte er entdeckt, dass er auf zwei Beinen noch schneller alles würde erreichen können. Es war nur noch eine Frage von Wochen, vielleicht Tagen, bis er selbständig laufen konnte. Ping und sie sahen dem Tag mit einer Mischung aus Vorfreude und Schrecken entgegen. Sie würden ihn nicht mehr aus den Augen lassen können.
    Kaum eine halbe Stunde später stand Johanna unschlüssig unter den Arkaden am Eingang der Temple Street. Das Viertel der Chinesen, in dem auch viele Inder lebten, war das mit Abstand größte und am dichtesten bevölkerte Singapurs. Es würde einer göttlichen Fügung bedürfen, den Portraitierten in diesem Ameisenhaufen zu finden. Eine Gruppe Tamilen trat aus ihrem Tempel und beäugte sie interessiert. Im Zurückweichen stolperte Johanna über einen indischen Blumenverkäufer, der hinter ihr auf dem Boden hockte und Girlanden aus orangefarbenen Tagetes und süßduftendem Jasmin auffädelte. Ein aufmerksamer Passant sprang hinzu und fing sie auf, bevor sie zu Fall kam. Sie stammelte einen Dank, woraufhin sich der Bärtige verneigte und zu der auf der anderen Straßenseite gelegenen Moschee eilte. Ein Schwall ärgerlicher Worte nötigte sie, sich umzudrehen. Der Blumenverkäufer hatte sich aufgerichtet und hielt ihr mit vorwurfsvoller Miene einen zerdrückten Blumenkranz entgegen. Hastig nestelte sie eine Münze aus dem Beutel, drückte sie ihm in die Hand und eilte weiter.
    Bald hatte sie sich hoffnungslos in den Gassen jenseits der Southbridge Road verirrt. Beklommen marschierte sie weiter, während Kulis und Wäscher, chinesische Blumenmädchen in grellfarbigen Cheongsams, anstößig hochgeschlitzten, enganliegenden Kleidern und uralte Männer mit den Fingern auf sie zeigten und tuschelten. Sie verstand kaum ein Wort, doch der spöttische Unterton der Bemerkungen entging ihr nicht. Nervös umklammerte sie Leahs Zeichnung. Anders als die Schwester, die sich den Bildern nach zu schließen mit großer Gelassenheit und Selbstverständlichkeit durch das Viertel bewegt hatte, erkannte sie keinen Reiz in ihrer Umgebung, sah nur fürchterliche Armut, Krankheit und Hoffnungslosigkeit. Als ein Leprakranker mit einer Hand, die mehr einer Vogelklaue als den Gliedmaßen eines Menschen glich, nach ihrem Arm griff, verlor sie die Nerven. Mit einem Schrei schüttelte sie ihn ab und stürzte in die nächste Gasse. Eine Gruppe finster blickender Männer kam geradewegs auf sie zu. Johanna kehrte auf dem Absatz um und rannte davon, während hinter ihr das rauhe, anzügliche Lachen der Männer von den Hauswänden zurückgeworfen wurde.
    Sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war, als sie endlich, völlig außer Atem und mit zerfetztem Rocksaum, auf die weite, lichterfüllte Southbridge Road

Weitere Kostenlose Bücher