Die Insel der Orchideen
Mannes, der den Niedergang herabkletterte. Er erreichte den Boden und verschwand außer Sicht zwischen der Ladung. Leah lauschte, doch das Knarzen der Schiffsplanken übertönte seine Schritte. Ihre Anspannung nahm zu. Wenn es ihr Helfer, William Copper, war, warum gab er sich nicht zu erkennen? Noch immer drang kein Laut zu ihr. Leah brach der kalte Schweiß aus. Fahrig tastete sie nach einem Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen konnte, aber vergebens. Dann ein Scharren in nächster Nähe. Eine Hand ergriff ihren Arm. Sie schrie auf.
»Pst! Willst du, dass sie dich hören?«
»Copper?« Ihre Stimme zitterte. Kraftlos vor Schreck sank sie auf ihr Lager zurück.
»Wer sonst? Ich bringe dir Wasser wie abgesprochen. Essen habe ich keines, aber du hast ja noch die Vorräte da drin, die sollten zwei Wochen reichen.« Zur Bestätigung klopfte er mit der flachen Hand auf eine kleinere Kiste. Dann schlängelte sich der Seemann durch eine winzige Lücke in das Versteck und ging neben ihr in die Knie. Ihre Höhle war so klein, dass er sich gegen sie pressen musste. Sie rückte ab, so weit es ging, brachte aber kaum eine Handspanne zwischen ihre Körper. Sofort kam er wieder näher, sein Atem streifte ihre Wangen. Leah verkrampfte sich. Als sie vor zwei Wochen im Hafen mit diesem Mann handelseinig geworden war, hatte sein offenes Gesicht sie für ihn eingenommen, er war ihr harmlos und vertrauenswürdig erschienen. Doch jetzt strichen seine Finger suchend über ihren bloßen Unterarm.
»Lass das.« Sie stieß ihn fort, gleichzeitig bemüht, einen heiteren Ton anzuschlagen. Sie durfte ihn keinesfalls verärgern. »Ich bin eine ehrbare Frau.«
Er lachte. »Ehrbare Frauen reisen nicht als blinde Passagiere. Außerdem tragen sie weiße Kleider mit Spitzen und Rüschen, keine Kulihosen.« Immer noch lachend erhob er sich und quetschte sich wieder zurück in den schmalen Durchgang. »Überleg es dir mit der Ehrbarkeit. Hier unten wird dir die Zeit lang werden.«
Wenige Augenblicke später krachte die Luke herunter. Erleichterung durchflutete kurz Leahs Körper. Doch sofort füllte sich die Dunkelheit mit Leben; Ratten trippelten auf der Suche nach Essbarem über Kisten und Säcke, und von allen Seiten schlichen Leahs Geister auf ihr Versteck zu. Sie umschlang die Beine mit den Armen und legte ihre Stirn auf die Knie. Die Überfahrt würde ihr viel Kraft abverlangen. Im schlimmsten Fall mehr.
* * *
Als Friedrich und ihre Mutter am Nachmittag zurückkehrten, hatte sich Johanna bereits eine Geschichte zurechtgelegt. Sie würde den beiden Leahs Flucht verheimlichen und alles daransetzen, die Schwester vor dem Zorn der Familie zu bewahren. Sobald sie Leah gefunden hatte, wollte sie gemeinsam mit ihr nach einer Lösung suchen, um ihr Leben wieder erträglich zu gestalten.
Daher behauptete sie, Leah sei bei einer kranken Freundin und würde auf deren Bitte hin dort übernachten. Da sich Leah in der Vergangenheit hin und wieder mit einer gleichaltrigen Engländerin getroffen hatte und diese aus guter Familie stammte, stellten weder Friedrich noch die Mutter Fragen, zumal Johanna ein kurzes Billett vorlegen konnte, das sie mit verstellter Schrift selbst geschrieben hatte.
Den ganzen Abend saß Johanna wie auf heißen Kohlen. Ein, zwei Tage noch würde sie Leahs Abwesenheit erklären und ohne Friedrichs Wissen und das ihrer Mutter nach ihr suchen können, notfalls auch in den dunkelsten Hinterhöfen der Armenviertel. Dies war vielleicht die letzte Gelegenheit zur Wiedergutmachung, und sie würde sie nutzen.
In der Nacht warf sie sich ruhelos von einer Seite zur anderen. Sie fand keinen Schlaf, lauschte stattdessen in die Dunkelheit. Mehrmals sprang sie auf und eilte zum Fenster, weil sie meinte, das Klappen des Gartentors und Schritte vernommen zu haben, doch niemand kam.
Endlich graute der Morgen, waren Morgentoilette und Friedrichs Verabschiedung überstanden. Johanna vertraute Hermann erneut Pings Obhut an und gab gegenüber ihrer Mutter vor, sie wolle mit Mercy eine Spazierfahrt unternehmen. Kurz überlegte sie, ob sie Mercy einweihen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Einen Fußmarsch durchs chinesische Viertel würde diese trotz aller Freundschaft ablehnen und Johanna nur drängen, die Männer mit der Suche zu beauftragen.
Im Laden mit den getrockneten Tieren angekommen, hielt sich Johanna gar nicht erst mit Höflichkeiten auf. Sie knallte ein Selbstportrait ihrer Schwester und die Zeichnung, auf der auch
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