Die Insel der Orchideen
dass er ihr einen Platz in der vorderen Reihe überließ.
Als Erstes kamen Träger mit der Aussteuer. Ein goldbeschlagener Henkelkorb, Bakul Siah genannt, löste durch seine Pracht einen vielstimmigen Ausruf der Bewunderung aus, und auch einige Schmuckstücke weckten begehrliche Blicke, doch Leahs Augenmerk galt allein der Menschengruppe, die den Trägern gemessenen Schrittes folgte. Zwei Männer von der Insel Boyan in buntbedruckten Baumwolltuniken und mit nach malaiischer Art gewickelten Kopfbedeckungen gingen vorweg. Jeder von ihnen trug an einer langen Stange eine Papierlaterne, auf denen in kunstvoller Kalligraphie die Familiennamen der Brautleute prangten. Ihnen folgten ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge in chinesischen Trachten, dann kam das Brautpaar, flankiert von den Schirmträgern. Über und über mit glücksbringenden Phönixen und Drachen bestickte Seidenbrokatgewänder verhüllten die Brautleute von Kopf bis Fuß, so schwer, dass die zierliche Braut sichtlich Mühe hatte, unter dem Gewicht nicht zusammenzubrechen. Auf ihrem Kopf thronte eine mit Goldornamenten verzierte Haube, die bei jedem ihrer Schrittchen hin- und herschwang. Sie trippelte auf gebundenen Füßen voran, bemüht, jeden Augenkontakt zu vermeiden. Selbst unter ihrem zur Maske geschminkten Gesicht war ihre unglückliche Miene zu erkennen. Leah wollte sie hassen, aber sie verspürte nur Mitleid. Für diese Frau hielt das Schicksal nichts bereit als Dienen, ihre oberste Pflicht würde das Gebären von Söhnen sein. Söhne für einen Mann, der sie nicht liebte, nicht lieben konnte. Boon Lee hatte Leah mehr als einmal beteuert, dass er ihren freien und wachen Geist schätzte, ihre Selbständigkeit und ihren Wissenshunger. Was sollte er mit einem Püppchen wie diesem an seiner Seite?
Sie riss sich von der Braut los und zwang ihren Blick auf den Bräutigam. Sein Gesicht war ebenso leer wie das der jungen Frau neben ihm. In seinen Festtagsgewändern wirkte er fremd und gleichzeitig vertraut. Zärtlich betrachtete Leah seine Züge, erinnerte sich an sein gelöstes Lachen, wenn er neben ihr lag, an die Lust, die sich darin gespiegelt hatte. Würde die Chinesin ihn jemals so erleben? Sollte sie es ihm und ihr wünschen? Leah umklammerte den Griff ihrer schweren Tasche, die sie schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, wie einen Rettungsanker. Sie wollte ihn für sich allein, doch das Schicksal hatte in Boon Lees Leben keinen Platz für sie vorgesehen, hatte ihr sogar das gemeinsame Kind genommen. Dann konnte sie ihm ebenso gut alles Glück der Welt wünschen.
Er ließ den Blick über die Menge schweifen. Bevor Leah den Kopf senken konnte, trafen sich ihre Augen. Für einen kurzen Moment verlor er die Fassung, dann riss er sich zusammen. Noch zwei, drei Schritte, und er war vorüber, für immer aus ihrem Leben gegangen. Ehrwürdige Nyonyas, Ehefrauen der anderen Baba-Familien und Mütter von vielen Söhnen, bildeten die Nachhut des Zuges, dann schloss sich die Menge hinter ihnen. Benommen starrte Leah den sich entfernenden Schirmen und Laternen nach, bis die Prozession hinter der nächsten Straßenecke verschwand.
»Komm, Kleiner Sperling. Lass uns zum Wasser gehen. Du brauchst ein gutes Char Koay Teow und ein Glas Wein.«
Leah ließ sich von Onkel Koh zu einem kleinen Essensstand an der Kreta Ayer Road führen. Er besorgte zwei Schüsseln mit in einem dicken Sud aus Sojasauce, Eiern, Bohnensprossen, Frühlingszwiebeln und vielen Zutaten mehr schwimmenden Reisnudeln und drückte einem Jungen Geld in die Hand, damit er eine Flasche hochprozentigen Schnaps besorgte. Kurz darauf schenkte er Leah ein kleines Porzellantässchen voll. Sie stürzte es hinunter, schüttelte sich und hielt es ihm wortlos hin. Das dritte und vierte Mal schenkte sie sich selbst nach. Der Alkohol stieg ihr schnell zu Kopf, ein albernes Kichern schüttelte sie. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, als sie sich die ratlosen Gesichter ihrer Familie vorstellte, wenn sie bemerkten, dass die Gefangene ausgebrochen war. Es geschah ihnen recht. Und bald würden sie erkennen, wie viel Grund sie für ihre Bestürzung hatten. Leahs Stimmung kippte ins Weinerliche. Vielleicht würden sie gar nicht nach ihr suchen. Vielleicht, ja ganz sicher sogar, war es ihnen egal, was aus ihr wurde. Sie griff nach dem Schnaps und wollte sich nachschenken. Der Geschichtenerzähler entwand ihr die Flasche.
»Du hast genug.«
Sie wehrte sich nicht, und bald darauf drängte Onkel Koh
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