Die Insel der Orchideen
zum Aufbruch. Als er anbot, sie zu Thompson’s Bridge zu bringen, lehnte sie ab. Sie wolle noch ein wenig allein sein und ihren Gedanken nachhängen. Sie umarmte ihn fest, schnappte ihre Tasche und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sobald sie sicher war, dass Onkel Koh sie nicht mehr sehen konnte, brachen die Dämme. Tränen rannen ihr in Strömen die Wangen hinunter. Es dauerte lange, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie ihren Weg fortsetzen konnte. Sie musste sich sputen.
* * *
Johanna schlich bereits zum vierten Mal an Leahs Zimmer vorbei. Sie hatte wie jeden Morgen das Frühstückstablett vor der Tür abgestellt. Normalerweise holte sich ihre Schwester die Mahlzeit, sobald alle anderen im Untergeschoss versammelt waren, trank ihren Tee, aß ein paar Bissen und stellte das Tablett wieder in den Gang. Mit ihrer Mutter und auch Friedrich, die Aushungern für ein probates Mittel hielten, um Leah aus ihrem Zimmer und zurück in den Schoß der Familie zu zwingen, befand sich Johanna deshalb in einem andauernden Streit. Sie kannte Leahs Dickkopf besser als alle anderen, aber mehr noch schien sie die Einzige zu sein, die ihren Kummer und ihre Verzweiflung nachfühlen konnte.
Nachdenklich starrte sie auf das unangetastete Essen zu ihren Füßen. Obwohl es bereits Mittag war, hatte Leah kein Lebenszeichen von sich gegeben. Johannas Unruhe wuchs, doch noch rang sie mit sich, ob sie das Zimmer unaufgefordert betreten sollte. Zu deutlich stand ihr jener Nachmittag vor Augen, als sie die unseligen Zeichnungen gefunden und ihre fehlgeleitete Fürsorge alles Unglück heraufbeschworen hatte. Sie legte ihr Ohr an die Tür. Nichts. Kein Knarren, kein Atmen, kein Husten. Nur tödliche Stille.
Und wenn Leah krank geworden, in Ohnmacht gefallen war? Johannas Herz setzte für einen Schlag aus. Leah lag vielleicht im Sterben, und sie stand unschlüssig herum! Fahrig drückte sie die Klinke herunter, hoffend, dass Leah nicht den Riegel vorgelegt hatte. Einen Augenblick später war sie im Zimmer. Leah war nicht da, das Bett unberührt.
Die Vorhänge bewegten sich leicht. Johanna trat ans Fenster. Seit der Baum fort war, hatte Leah das Haus nicht mehr heimlich verlassen – zumindest glaubten das alle. Aber mit einem Mal war sich Johanna nicht mehr so sicher. Die Aufmerksamkeit Friedrichs und der Mutter war allmählich erlahmt, zumal Leah in ihrer Apathie nicht den Eindruck gemacht hatte, als interessiere sie die Welt jenseits des Gartentores noch. Sie hätte jederzeit davonspazieren können, es wäre erst Stunden später aufgefallen. Oder eben am nächsten Morgen.
Johannas Hände krampften sich um das Fenstersims, als ihr siedend heiß einfiel, dass Boon Lee wieder in der Stadt war. In diesen Tagen feierte er Hochzeit; anstandshalber waren sie und Friedrich sogar eingeladen worden, doch sie hatten sich in fadenscheinige Ausreden geflüchtet. War Leah dort? Falls ja, wollte sie einen Eklat herbeiführen oder sich lediglich überzeugen, dass der Mann ihr für immer genommen war? Johanna drehte sich so heftig um, dass eine kleine chinesische Schale ins Taumeln geriet und auf dem Fußboden zerschellte. Sie wollte sich bücken und die Scherben auflesen, doch dann hielt sie inne.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Im Gegensatz zu sonst wartete Leahs Zimmer mit peinlicher Ordnung auf. Ihre Bücher reihten sich alphabetisch sortiert auf dem Regal, der Tisch, normalerweise übersät mit Stiften, Skizzen und getrockneten Spezimen, war leer. Ihre Käfer stapelten sich in Boxen verstaut neben dem Schrank. Johanna öffnete ihn zögernd. Leah hatte ihre Kleidung sogar nach Farben sortiert. Nach und nach, mit wachsender Unruhe, zog Johanna jede Schublade auf und blickte sogar unters Bett. Nichts Auffälliges, außer ebenjener ungewöhnlichen Sauberkeit und Ordnung. Es wirkte, als hätte Leah reinen Tisch gemacht.
Hektisch durchsuchte Johanna das Zimmer ein zweites Mal. Die wenigen fehlenden Dinge erhärteten ihren Verdacht: Die Aquarellfarben und Pinsel waren fort, ihr Vergrößerungsglas, sämtlicher Schmuck und ihre Börse, dazu einige persönliche Unterlagen und Schriftstücke. Eine Spange legte sich um Johannas Brust, als es ihr dämmerte: Leah war fortgegangen. Für immer.
Die Kleidung schien bis auf ein einfaches Hauskleid vollständig zu sein, doch Johanna vermutete schon lange, dass Leah einen Fundus einheimischer Trachten besaß. Mit zunehmender Unruhe durchsuchte sie auch den Rest des Hauses. Leah
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