Die Insel der Orchideen
Johanna. »Als ich das erste Mal Ihr Bild sah, hoffte ich, dass meine Schwester in Ihnen einen Freund gefunden hat, einen, der ihr den Vater ersetzt. Ich habe mich geirrt.«
Er ließ Johannas Ausbruch stumm über sich ergehen, fragte nur, was sie nun tun wolle.
»Zur Polizei gehen, natürlich. Jedes erbärmliche Haus wird durchsucht. Jeder Hinterhof.«
»Ich bitte den Kapitan Cina, den Viertelvorsteher, um Hilfe«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Und die Hoey-Patriarchen. Wenn jemand Leah finden kann, dann die Männer der Hoeys.«
Johanna sah voller Abscheu auf den gebeugten Nacken des Mannes herab. »Gnade Ihnen Gott, wenn ihr etwas passiert ist«, sagte sie kalt, dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Haus.
12
Juni 1860 , einige Tage später
L eah hielt es nicht mehr aus. Zwischen der Ladung herumzulaufen, hatte sich in der Dunkelheit als äußerst schwierig erwiesen; mehrfach war sie gegen Kisten gestoßen und gestolpert, wenn das Schiff krängte, und hatte am Ende ihre Höhle kaum wiedergefunden. Die Stunden flossen ineinander, dehnten sich ins Endlose, einzig unterbrochen von Coppers täglichen Besuchen, bei denen er ihr Wasser brachte und den Eimer für ihre Notdurft austauschte. Bisher war es Leah gelungen, ihn auf Abstand zu halten, doch seine Avancen wurden immer dreister, so dass sie am gestrigen Tag keinen anderen Ausweg gewusst hatte, als sich zwischen anderen Kisten zu verbergen, sobald die Luke aufging. Copper hatte ihre Taktik mit einem Lachen quittiert, doch er würde ihre Weigerung, ihm zu Willen zu sein, auf Dauer nicht akzeptieren. Auf ihre Frage, wann sie Hongkong erreichten, bekam sie keine Antwort. Leah befürchtete, mindestens eine weitere Woche in ihrem selbstgewählten Gefängnis ausharren zu müssen. Sieben Tage, acht, vielleicht zehn oder zwölf. Genug Zeit, um dem Wahnsinn gefährlich nahe zu kommen. Sie musste hier raus, und wäre es nur für ein paar Minuten. Frische Luft atmen, die Muskeln dehnen, die Sterne sehen.
Da sie sich nach all den Tagen in der Dunkelheit nicht mehr auf ihr Zeitgefühl verlassen konnte, lauschte Leah angestrengt. Anfangs waren noch Schritte zu hören, hier und da ein hitziger Streit oder laut gebrüllte Befehle, doch nach und nach verstummten die Geräusche. Das gleichmäßige Rollen ließ auf eine stetige Brise schließen, die die Matrosen einlullen würde.
Leah tastete sich zum Einstieg des Laderaums vor, kletterte den Niedergang hinauf, drückte gegen die Luke und spähte durch den Spalt. Auch im Zwischendeck stapelten sich Kisten und Ballen, dunkle Blöcke in der grauen Dunkelheit. Schnarchen drang an ihr Ohr. Leah wartete, bis sich ihre Augen an das herrschende Zwielicht gewöhnt hatten. Kaum drei oder vier Meter entfernt baumelten einige Hängematten von der Decke. Sie behielt die Männer darin im Auge, doch nichts regte sich. Mit neuem Mut hob sie den Lukendeckel weiter an, die Kante fest umklammert, damit er ihr nicht aus der Hand rutschte. Alles ging gut. Unendlich vorsichtig schob sich Leah aus der Öffnung und huschte zur nächsten Treppe. Ein Windzug schlug ihr entgegen. Schnell eilte sie hinauf und versteckte sich sofort im Schatten weiterer Ladungsteile. Sie lehnte sich gegen eine Kiste, sog dankbar die unverbrauchte Luft in die Lungen und blickte in den Himmel. Leichter Dunst hing in der Luft und verlieh der Mondsichel eine fedrige Aureole. Weit entfernt am Horizont, dort, wo sie die riesige, langgestreckte Insel Palawan vermutete, türmten sich Gewitterwolken. Blitze schossen hin und her und erleuchteten die Wolkenungetüme von innen. Leah beobachtete das Spektakel gebannt. Den Mann, der seinen schweren Körper aufs Deck wuchtete und schlaftrunken, am Hosenbund zerrend, auf die Reling zusteuerte, bemerkte sie nicht.
Ein Fuß stieß gegen Leahs ausgestrecktes Bein. Sie fuhr auf, konnte einen Schreckensschrei nicht zurückhalten. Ein Fluch erschallte, dann stürzte der Mann krachend zu Boden. Leah sprang auf und schoss blind davon, verfolgt von seinen verwirrten Rufen. Keines klaren Gedankens fähig rannte sie ziellos zwischen den Kistenstapeln hin und her, verfing sich in einer Wäscheleine, riss sich los, hetzte weiter und presste sich schließlich in eine Lücke zwischen dem hinteren Deckaufbau und weiterer Ladung. Der Spalt war kaum breit genug für sie, doch die einzige Möglichkeit, sich zu verbergen. Sie versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen, sprach sich selbst Mut zu: Sie brauchte nur in ihrem
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