Die Insel der Orchideen
der Alte abgebildet war, auf den Tresen.
»Behaupten Sie immer noch, meine Schwester ist Ihnen nicht bekannt?«, herrschte sie den Alten an, der angesichts der zornigen Mem einiges von seinem Gleichmut verlor. Sein Blick flackerte zwischen Johanna und den Zeichnungen hin und her, dann bellte er etwas auf Chinesisch in den hinter dem Laden liegenden Raum. Ein Junge erschien.
»Der Mann, den Sie suchen, heißt Koh Kok«, sagte der Alte. »Folgen Sie dem Jungen!« Er nickte knapp und wandte sich demonstrativ einem neuen Kunden zu. Der Junge stand schon auf der Straße, und Johanna musste weit ausschreiten, um mit ihm Schritt zu halten. Kurz darauf blieb er in einer schmalen Gasse vor einer Tischlerwerkstatt stehen und rief etwas hinein. Ein Chinese mittleren Alters kam heraus, erblickte Johanna und hieß sie in der Werkstatt zu warten. Johannas Nervosität kehrte zurück. Sie hoffte inständig, die Schwester würde gemeinsam mit Herrn Koh die Stiege herunterkommen, doch stattdessen sauste ein kleiner Schatten auf sie zu und kletterte laut schnatternd an ihr hoch.
»Äffchen!« Sie kraulte den kleinen Gesellen unterm Kinn. Das Tier war sichtlich erfreut, sie zu sehen. Einen derart überschwenglichen Freudenausbruch durfte sie von Leah nicht erwarten. Ein Räuspern lenkte sie von dem aufgeregten Äffchen ab. Am Fuß der Treppe stand Herr Koh. Er wirkte ausgezehrter, als sein Portrait erwarten ließ, doch ansonsten hatte Leah ihn gut getroffen.
»Koh Kok?« Johanna setzte den Affen auf den Boden und ging auf den Mann zu. Sie überragte ihn um mindestens eine Handbreit. »Guten Tag.«
»Guten Tag, Mrs von Trebow.«
»Sie haben mich erwartet?«
Er zuckte die Achseln. »Apotheker Ah hat mir von Ihrem gestrigen Auftritt berichtet und mich gefragt, ob ich Sie treffen wolle.«
Johanna merkte auf. »Er wusste von Anfang an, wer ich bin?«, hakte sie nach.
»Natürlich.« Koh Kok wies auf die Papierrollen in ihrer Hand. »Ihre Schwester hat uns Bilder von Ihnen und Ihrem Sohn gezeigt.«
»Sie sind über unsere Familienverhältnisse offenbar gut im Bilde«, sagte Johanna schnippisch, während die Wut erneut in ihr aufstieg. »Dann dürfte Ihnen auch klar sein, dass wir Leahs Verhalten nicht tolerieren können. Der gute Ruf meiner Schwester hat Schaden genug genommen. Diese Eskapaden müssen aufhören.«
Er hob die Augenbrauen. »Eskapaden? Warum, glauben Sie, kommt Ihre Schwester hierher? Sie ist sehr unglücklich, doch in ihren schwersten Stunden ließen Sie sie allein.«
»Was erlauben Sie sich!« Seine Worte trafen Johanna im Innersten, doch so durfte er nicht mit ihr sprechen. Sie setzte zu einer scharfen Antwort an. Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Mir ist sehr wohl bewusst, dass Leahs Verhalten gesellschaftlich untragbar ist«, sagte er kühl, »doch ich werde ihr zur Seite stehen, solange sie mich braucht. Ihre Schwester ist anders als die meisten Frauen, Mrs von Trebow. Finden Sie es wirklich erstrebenswert, sie zu brechen?«
»Genug jetzt. Offensichtlich haben Sie mehr Einfluss auf Leah als ich. Machen Sie ihr klar, dass ihr Platz bei uns ist. Ich erwarte sie noch an diesem Nachmittag zurück in der Waterloo Street.«
Johannas Worte ließen den Mann verstummen. Seine Gesichtszüge erwachten endlich zum Leben. Mit zunehmender Verunsicherung sah Johanna erst Verwunderung, dann regelrechtes Entsetzen in seinen Augen wachsen.
»Sie ist nicht bei Ihnen?«, fragte sie unsicher.
Er schüttelte den Kopf. »Seit wann vermissen Sie sie?« Seine Stimme klang jetzt rauh.
»Sie ist seit zwei Nächten nicht nach Hause gekommen.«
Er stöhnte auf.
Viel fehlte nicht, und Johanna hätte ihn am Kragen gepackt und geschüttelt. »Was wissen Sie?«, fuhr sie ihn an.
»Sie war hier«, antwortete er, um Fassung ringend. »Wir haben den Hochzeitsumzug angesehen. Ihre Schwester war sehr aufgewühlt.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich hätte es ahnen müssen. Sie nahm mich zum Abschied in den Arm, was sie sonst nie tat. Und sie hatte eine große Tasche bei sich. Ich wollte sie zu Thompson’s Bridge begleiten, doch sie lehnte ab. Sie wollte allein sein, also ließ ich sie ziehen. Ich dachte, sie geht zurück in die Waterloo Street.«
Johanna war fassungslos. »Sie haben meine Schwester ohne Schutz gelassen?«
Seine Schultern sackten nach unten. »Es war noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Leah kennt hier jede Gasse, jede Abkürzung.«
»Sie haben unverantwortlich gehandelt«, zischte
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