Die Insel der roten Erde Roman
die Frau müsse im Kindbett bei der Geburt eines weiteren Sohnes gestorben sein. Sie fragte sich, ob Evan Schuldgefühle plagten, weil weit und breit kein Arzt in der Nähe war, der ihnen hätte zu Hilfe kommen können.
»Darf ich fragen, was mit der Mutter des Jungen passiert ist, signore?«
Evan wurde blass. »Sie … sie ist im Kindbett gestorben.«
»Jetzt sagen Sie bloß, hier draußen auf der Farm?«, bemerkte Carlotta spitz.
Evan presste die Lippen zusammen und schluckte schwer. Sein Blick wanderte zum Hügel hinauf, wo die Schafe weideten. Zwei kleine, schlichte Holzkreuze kennzeichneten die Gräber von Jane und Joseph. Man konnte sie von hier unten nicht sehen, doch Evan wusste auch so ganz genau, wo sie sich befanden.
»Mein Vater redet nicht gern über meine Mutter«, sagte eine zarte Mädchenstimme plötzlich in scharfem Ton. »Das ist zu schmerzhaft.«
Carlotta fuhr herum und sah sich Sissie gegenüber. Das Mädchen funkelte sie böse an.
»Das ist schon in Ordnung, Sissie«, sagte Evan.
»Ich dachte, Sie wären längst fort.« Sissie starrte die Italienerin herausfordernd an. Sie konnte gut verstehen, weshalb ihre Freundin Sarah diese Frau nicht leiden konnte. Carlotta musste sich immerzu in Dinge einmischen, die sie nichts angingen.
»Redet man so mit einer Nachbarin?«, tadelte Evan seine Tochter streng. Als diese nicht antwortete, fuhr er sie an: »Mach, dass du ins Haus kommst, Sissie!«
Das Mädchen warf ihm einen furchtsamen Blick zu und wandte sich zum Gehen.
»Entschuldigen Sie, Carlotta. Meine Tochter ist in letzter Zeit ziemlich reizbar. Sarah meint, das kommt daher, dass sie zu einer jungen Frau heranwächst.«
»Da dürfte sie Recht haben«, entgegnete Carlotta. Diese Bemerkung hatte sie ungeheure Überwindung gekostet, aber da sie eigene Pläne verfolgte, was die Zuchthäuslerin betraf, wollte sie ihre wahren Gefühle nicht preisgeben.
Kingscote
»Was ist eigentlich auf dem Ball passiert, Lance?«, fragte Edna, kaum dass sie das Haus ihres Sohnes betreten hatte. Lance kam gerade von der Arbeit und zog sich um.
»Wie meinst du das, Mutter?« Er zupfte einen Hemdärmel zurecht und warf Edna einen verwunderten Blick zu. Nachdem sie sich fast drei Tage nicht gesehen hatten, hätte er eine herzlichere Begrüßung erwartet. Lance hatte viel über das befremdliche Benehmen Amelias nachgedacht. Ob sie mit seiner Mutter gesprochen hatte? Wenn ja, hatte sie ihr bestimmt nicht die ganze Geschichte erzählt.
»Amelia hat mir heute Nachmittag gesagt, sie hätte sich nicht besonders gut unterhalten.«
»Tatsächlich?« Lance war gespannt, was als Nächstes kam.
»Sie sagte, sie sei noch nicht so weit, möglichen Verehrern vorgestellt zu werden.«
Lance staunte über diese Wortwahl. »Sie hat mit einigen von meinen Freunden und ein paar anderen Männern aus der Stadt getanzt, Mutter. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich prächtig amüsierte.«
Edna ließ sich seufzend auf einen Küchenstuhl sinken, während Lance den Kessel aufsetzte. Er schürte die Asche im Herd und legte eine Hand voll Anzündspäne nach. Binnen Sekunden schlugen Flammen empor.
»Wir müssen behutsam mit ihr umgehen, Lance. Sie ist seelisch angeschlagen.«
Lance sah im Geiste vor sich, wie die vermeintlich »seelisch angeschlagene« junge Frau sich auf dem Ball aufgeführt hatte. Doch er brachte es nicht über sich, seiner Mutter zu erzählen, wie schamlos sie mit den Männern geflirtet hatte, und dass sie in Kingscote zum Stadtgespräch geworden war.
Als er schwieg, fuhr Edna fort: »Ich dachte, du würdest dich um sie kümmern, Lance.« Ein leiser Vorwurf lag in ihrer Stimme.
»Aber das tue ich doch, Mutter. Du weißt, dass ich niemals zulassen würde, dass ihr etwas zustößt. Ich dachte, sie amüsiert sich und ist froh darüber, andere Menschen kennen zu lernen.«
»Offenbar fühlt sie sich nur richtig wohl, wenn sie mit dir zusammen sein kann.«
Lance warf ihr einen entgeisterten Blick zu. »Aber ich hatte Olivia zum Ball eingeladen! Hätte ich sie etwa sitzen lassen und den ganzen Abend mit Amelia verbringen sollen?«
»Nein, natürlich nicht!« Edna stieß einen ratlosen Seufzer aus. Sie hoffte, dass ihr Mündel bis zum Abendessen Camillas Briefe gelesen hatte. Dann würde sie manches mit anderen Augen sehen.
Sarah hatte Camillas Briefe tatsächlich gelesen, und so quälte sie eine neue Sorge, als sie an jenem Abend das Esszimmer betrat. Brian Huxwell war nämlich nicht nur der Anwalt
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