Die Insel der roten Erde Roman
Frauengefängnisses, in dessen Hof sie eine Stunde täglich frische Luft hatte schnappen dürfen? Die Wäsche, die sie und die anderen dort gewaschen hatten, war aus dem Krankenhaus und der Irrenanstalt angeliefert und wieder abgeholt worden. Deshalb hatte Sarah nicht das Geringste von der Stadt gesehen. »Was möchten Sie denn wissen?«, fragte sie vorsichtig.
»Ganz egal. Erzählen Sie, was immer Sie möchten«, antwortete Dennis.
»Nun, Hobart ist dichter besiedelt als Kangaroo Island«, sagte sie. Sie war schrecklich nervös und hatte das Erstbeste gesagt, das ihr in den Sinn kam. Jetzt spürte sie, wie ihr die Röte vom Hals ins Gesicht stieg.
Dennis lachte. »Ich glaube, das trifft auf jeden Ort zu! Aber darum gefällt’s uns hier ja so gut, nicht wahr, Felicity?«
»O ja. Ich komme aus New York. Sie ahnen nicht, wie bevölkert, laut und hektisch diese Stadt ist! Dagegen ist diese Insel das reinste Paradies, vor allem für die Kinder, und Dennis geht die Arbeit niemals aus.«
Sarah konnte förmlich sehen, wie der Arzt im Geiste die nächste Frage formulierte. Rasch kam sie ihm zuvor. »Wo haben Sie denn vorher gearbeitet, Dr. Thompson?«
»Ich habe in Amerika Medizin studiert und nach dem Studium in New York praktiziert. Dort habe ich Felicity kennen gelernt. Sie arbeitete als Krankenschwester in dem Hospital, in dem ich Assistenzarzt war. Wir sind dann nach Adelaide gezogen, wo ich eine Stelle bekam und unsere Söhne geboren wurden. Waren Sie schon mal in Adelaide?«
Sarah schlug das Herz bis zum Hals. War Amelia jemals in Adelaide gewesen? Und wenn ja, würde Edna es wissen? Ganz bestimmt. Aber weder in Camillas Briefen noch in Amelias Tagebuch hatte sie etwas von einer Reise nach Adelaide gelesen. Sie spürte, wie alle Blicke auf sie gerichtet waren.
»Nein, dort war ich noch nie«, antwortete sie und hoffte inständig, dass es die richtige Antwort war. Als Edna und Charlton nicht widersprachen, atmete sie auf.
»Edna hat uns erzählt, dass Ihr Schiff vor der Küste gekentert ist«, sagte Felicity. »Das muss entsetzlich gewesen sein.«
Dieses Mal kam Sarahs Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Ja, furchtbar. Ich hatte noch nie im Leben so schreckliche Angst. Eine Zuchthäuslerin und ich waren die einzigen Überlebenden. Aber das hat meine Tante Ihnen sicher schon erzählt.«
»Ja. Sie erwähnte auch, dass Sie eine Reisegefährtin hatten, die ertrunken ist. Mussten Sie die schwere Aufgabe übernehmen, deren Angehörige zu benachrichtigen?«
Sarah presste die Lippen zusammen. Sie dachte daran, was Lucy ihr über sich erzählt hatte. »Nein, Lucy war in einem Waisenhaus aufgewachsen.«
»In welchem denn?«
Sarah starrte Felicity groß an. Auf diese Frage war sie nun wirklich nicht gefasst gewesen.
Felicity deutete ihre Reaktion falsch: Sie dachte, sie hätte durch ihre Frage eine alte Wunde aufgerissen. »Entschuldigen Sie, Amelia. Das war taktlos von mir. Ich habe nur deshalb gefragt, weil eine Freundin von mir ein Waisenhaus leitet.«
»So?« Sarah stockte der Atem, und ihre Gedanken überschlugen sich. »Wo denn?«
»In Melbourne.«
»Lucy kam aus einem Heim in Hobart Town«, sagte Sarah hastig, obwohl sie das natürlich nicht wusste.
»Wie lange war sie denn bei Ihnen gewesen?«, fragte Dennis Thompson behutsam.
»Ein … paar Wochen.« Sie erinnerte sich, dass Lucy ihr erzählt hatte, sie stehe noch nicht lange in Amelias Diensten.
Felicity sah sie an. »Dennoch stand sie Ihnen nahe?«
Sarah nickte. »Ja.« Sie starrte auf ihren Teller.
»Edna erzählte, Sie hätten Tanzunterricht gegeben«, fuhr Felicity nach einer kleinen Pause fort.
Sarah schaute auf. »Ja, das stimmt.«
»Was für ein schöner Beruf!« Felicity wusste von Edna, dass Amelias Eltern sehr wohlhabend gewesen waren und die junge Frau es daher nicht nötig hatte, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Camilla hatte ihre Tochter jedoch immer ermutigt, selbstständig zu sein, weil das ihrer Ansicht nach den Charakter formte.
»Ja, ein sehr schöner Beruf.« Sarah wusste nicht, was sie sonst darüber sagen sollte.
»Amelia spricht auch Fremdsprachen – Französisch und Italienisch – und war im Begriff, Spanisch zu lernen«, sagte Edna.
»Tatsächlich!«, staunte Felicity. »Ich bin beeindruckt.«
Sarah hatte panische Angst, dass man sie bat, ein paar Worte in einer Fremdsprache zu sagen. »Helfen Sie Ihrem Mann mit seinen Patienten?«, fragte sie, um von sich abzulenken.
»Im Augenblick habe ich genug
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