Die Insel der roten Erde Roman
mit den Kindern zu tun, und einige von Dennis’ Patienten wohnen weit entfernt, sodass er viel unterwegs ist. Es gibt zwar noch einen Arzt in Penneshaw, aber sie wechseln sich ab, was die Versorgung der Menschen in American River betrifft. Das bedeutet, dass er manchmal tagelang nicht zu Hause ist. Aber sobald die Kinder älter sind, möchte ich ihm in der Praxis wieder zur Hand gehen.«
»Was hat Ihr Vater eigentlich gemacht, Amelia?«, fragte Dennis.
Sarah schob sich eine Gabel voll Essen in den Mund, um Zeit zu gewinnen. Sie kaute langsam, schluckte und erwiderte dann: »Er … war in vielen Bereichen tätig.« Sie warf Charlton einen Hilfe suchenden Blick zu. Als die Hilfe ausblieb, sah sie Dr. Thompson in die Augen und fragte: »Was hat Ihr Vater denn gemacht?«
Der Arzt war einen Moment lang sprachlos.
»War er auch Arzt?«, fuhr Sarah fort.
Dennis verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Entschuldigen Sie, Amelia. Sie müssen das Gefühl haben, wir würden Sie einem Verhör unterziehen. Aber hier lernt man nicht oft neue Menschen kennen, deshalb interessieren wir uns so sehr für Ihr Leben.«
»Ich verstehe.« Sarah nickte. »Aber da ich meine Familie erst vor kurzem verloren habe, fällt es mir schwer, über sie zu reden. Das … das wird sicher vorübergehen.« Sie tat, als könnte sie ihre Emotionen nur mühsam unter Kontrolle halten, und tupfte sich eine nicht vorhandene Träne aus dem Augenwinkel.
»Ganz bestimmt«, sagte Dennis sanft. »Es ist völlig normal, dass Sie so empfinden. Aber erzählen Sie uns doch ein wenig von sich.«
»Ich wüsste nicht, was.« Sarah heuchelte Verwirrung. »Ich habe das Gefühl, das Mädchen, das ich einmal war, existiert nicht mehr. Halten Sie das für verrückt?« Sie konnte Dennis ansehen, dass er tiefes Mitgefühl mit ihr empfand.
»Nein, keineswegs. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich wie von Ihrem früheren Leben losgelöst fühlen, weil es eine so jähe, tragische Wendung genommen hat.«
»Genau! Genauso fühle ich mich, Dr. Thompson! Was für ein ausgezeichneter Arzt Sie doch sind!«, schmeichelte sie und himmelte ihn regelrecht an.
Dennis Thompson sah flüchtig zu Edna hinüber. Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel. Edna hatte den Verdacht geäußert, dass mit ihrem Mündel etwas nicht in Ordnung sei, doch er konnte nichts Merkwürdiges an der jungen Frau entdecken. Sie hatte Schlimmes durchgemacht und war nicht imstande, darüber zu reden. Das war nicht ungewöhnlich. Über ihre Gefühle hingegen hatte sie sehr offen gesprochen, was er bewundernswert fand. Seiner Einschätzung nach war sie sehr reif für ihr Alter.
Am anderen Morgen gingen die Ashbys aus. Sie wollten Freunde besuchen, sagten sie Sarah. Diese bemerkte die verstohlenen Blicke, die Edna und Charlton tauschten, und fragte sich, ob sie Dr. Thompson aufsuchten, um sich zu erkundigen, wie seine ärztliche Diagnose über sie lautete. Da sie am Abend zuvor auf geblieben war, bis die Thompsons sich verabschiedet hatten, hatten Edna und Charlton keine Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräch mit ihren Bekannten gehabt. Oder litt sie bereits unter Verfolgungswahn? Sie fand nämlich, der Abend war gut gelaufen. Als sie ins Bett gegangen war, hatte sie sich beglückwünscht, wie geschickt sie die Situation gemeistert hatte.
Sarah langweilte sich. Sie sah, dass Polly draußen im Garten die Wäsche aufhängte und beschloss, ihr zu helfen. Sie war ihr schon des Öfteren bei der Hausarbeit zur Hand gegangen, und Polly war erstaunt über ihre Geschicklichkeit in diesen Dingen. Vor allem vom Wäschewaschen verstand sie eine Menge.
»Das mache ich doch«, wehrte Polly verlegen ab, als Sarah sich daran machte, die Wäschestücke auf die Leine zu hängen.
»Ich möchte dir aber helfen. Mir ist langweilig.« Sarah hatte noch nie Gelegenheit gehabt, die Hände müßig in den Schoß zu legen, und konnte sich nur schwer daran gewöhnen. Außerdem konnte sie mit Polly mitfühlen, da sie selbst ja als Dienstmädchen gearbeitet hatte und wusste, wie viel Arbeit dies mit sich brachte. Frei hatte sie so gut wie nie, nicht einmal an Sonntagen. Der einzige Unterschied zwischen ihr und Polly war der, dass Polly nicht von zwei Töchtern des Hauses schikaniert wurde, wie es ihr bei den Murdochs widerfahren war.
Polly schaute Sarah einen Moment zu. Dann gewann ihre Neugier die Oberhand, und sie sagte: »Daheim bei Ihren Eltern in Hobart Town haben Sie doch bestimmt keine Wäsche waschen
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