Die Insel der roten Erde Roman
hätte sie sich nie träumen lassen. Eine Erbschaft! An so etwas hatte sie bisher gar nicht gedacht. Wenn es stimmte, was Charlton sagte, würde bald alles ihr gehören. Ihre Gedanken überschlugen sich. Das änderte ihre Pläne. Das änderte alles . Als reiche Frau wäre sie in der Lage, ihre Familie zu unterstützen. Sie würde tun können, was ihr Herz begehrte. Das aber bedeutete, einige Monate bei den Ashbys bleiben zu müssen. Konnte sie ein solches Risiko eingehen?
»Henry hat sein Geld klug angelegt«, fuhr Charlton fort. »Und wir betrachten es als unsere Aufgabe, dir zu zeigen, wie man ein so großes Vermögen verwaltet.«
Sarah fand keine Worte. Was hätte sie auch sagen sollen, ohne sich zu verraten? Die Ashbys hielten ihr Schweigen für ein Zeichen von Verwirrung und Traurigkeit.
»Du hast doch so gern getanzt, Amelia«, sagte Edna und tätschelte ihr die Hand. »Camilla hat mir oft geschrieben, was für eine hervorragende Tanzschülerin du warst, und dass du den Jüngeren sogar Unterricht erteilt hast. Natürlich wissen wir nicht, was du gern tun möchtest, aber mit dem Geld, das du erben wirst, könntest du eine eigene Tanzschule eröffnen. Deine Mutter hat mir anvertraut, dass du immer davon geträumt hast.«
Panik erfasste Sarah. Sie konnte nicht tanzen. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung von Etikette. Sie war mit vierzehn Jahren von der Schule abgegangen, hatte danach für die Murdochs gearbeitet und war von dort ins Zuchthaus gewandert. Ein gesellschaftliches Leben hatte sie nie gehabt. »Ich … ich habe seit dem Unfall nicht mehr ans Tanzen gedacht, Tante Edna.« Ein Gedanke durchfuhr sie. Sie würde Edna bitten, sie Briefe von Amelias Mutter lesen zu lassen, unter dem Vorwand, sich der Verstorbenen dadurch näher zu fühlen. Bestimmt könnte sie den Briefen manches über Amelias Leben entnehmen, vorausgesetzt, Edna hatte sie aufbewahrt.
»Das verstehe ich, mein Kind.«
»Deine Eltern sind natürlich davon ausgegangen, dass du einen reichen Mann heiratest, Amelia«, fuhr Charlton ernst fort, »und dass du nie finanzielle Sorgen haben wirst. Aber jetzt wäre es ratsam, deine Zukunft sorgfältig zu planen.«
Sarah nickte bloß. Sie konnte im Moment keinen klaren Gedanken fassen. Anscheinend gab es sehr viel mehr zu bedenken, als sie geahnt hatte. In der Tat musste jeder weitere Schritt sorgfältig geplant werden. Allein schon, dass sie nicht gewusst hatte, welch begabte Tänzerin Amelia war, zeigte ihr dilettantisches Vorgehen.
»Ich bin schrecklich müde«, sagte sie leise. »Darf ich mich zurückziehen?«
Die Ashbys tauschten einen besorgten Blick. Sie fürchteten, das Gespräch über die Erbschaft habe ihr Mündel zu sehr aufgeregt.
»Aber natürlich, Amelia. Wir haben noch viel Zeit für ernsthafte Unterhaltungen«, sagte Charlton.
»Geh ruhig schlafen, mein Kind«, fügte Edna hinzu.
»Hallo!«, rief in diesem Moment eine Stimme von der Hintertür.
Edna wandte den Kopf und lächelte. »Das ist Lance!« Laut fügte sie hinzu: »Wir sind im Salon, Lance!«
»Lance hat sich sehr auf das Wiedersehen mit dir gefreut, musst du wissen«, sagte Charlton zu Sarah.
Ihr Herz pochte heftig. Sie fragte sich, ob Lance die echte Amelia in den letzten Jahren gesehen hatte. Wie sollte sie sich verhalten? Als Lance hereinkam, riss Sarah die Augen auf. Nie zuvor war sie einem so gut aussehenden Mann begegnet. Er war groß und sanft gebräunt, hatte braunes, von hellen Strähnen durchzogenes Haar, leuchtend grüne Augen und einen sinnlichen Mund. Ihr fiel auf, dass sein strahlendes Lächeln ein wenig starr wurde, als er sie erblickte.
Sarah wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass er etwas zu ihr sagte.
»Hallo, Amelia«, begrüßte er sie schließlich. »Willkommen auf der Insel.«
»Hallo … Lance. Danke«, antwortete Sarah.
Offensichtlich hielt auch er sie für Amelia Divine. Sarah fiel ein Stein vom Herzen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sein attraktives Äußeres und seine warme, dunkle Stimme hatten ihr buchstäblich die Sprache verschlagen.
»Amelia wollte sich gerade zurückziehen«, sagte Charlton. »Sie ist sehr erschöpft.«
»Oh, das ist schade. Ich wäre gern früher gekommen, aber in der Bank gab es viel zu tun.«
Sarah warf Edna einen fragenden Blick zu.
»Lance arbeitet in der hiesigen Commercial Bank, Amelia. Weißt du das nicht mehr?«
»Doch, natürlich. Ich habe im Moment nur nicht mehr daran gedacht. Ich fürchte, ihr müsst viel Geduld mit mir haben.
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