Die Insel der roten Erde Roman
Gefängnis hatte man ihnen einen abscheulichen Fraß vorgesetzt: meistens Haferschleim oder eine wässrige Suppe mit einem Stück altem, verschimmeltem Brot. Auf dem Schiff war das Essen schon besser gewesen, aber es konnte sich nicht im Entferntesten mit dem opulenten Mahl messen, das sie gerade eingenommen hatte. Sie hatte jeden Bissen genossen und hoffte, mit einem Kompliment von ihrer Essgier abzulenken.
Edna blickte sie verdutzt an. »Ich dachte, deine Mutter hatte eine großartige Köchin. Wie hieß sie gleich? Millie oder Tillie oder so ähnlich …?«
Panik erfasste Sarah. »Wir … äh, wir hatten mal eine Millie, aber … aber Mutter hat die Köchinnen in den letzten Jahren häufig gewechselt, deshalb bin ich mir nicht sicher, wen du meinst, Tante Edna.« Sie nahm sich vor, so schnell wie möglich Amelias Tagebuch zu lesen, damit sie mehr über deren Leben erfuhr.
»Tatsächlich?« Edna runzelte die Stirn. »Das sieht Camilla aber gar nicht ähnlich. Sonst hielt sie doch immer an gutem Personal fest.«
Sarah wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Na, ist ja auch egal«, fuhr Edna fort. »Ich freue mich jedenfalls über deinen Appetit. Du könntest ruhig ein wenig mehr auf den Rippen haben.«
Sarah senkte den Kopf. Sie dachte an die Zeit im Zuchthaus zurück, als zu dem miserablen, kargen Essen noch die harte Arbeit hinzugekommen war. Sie hatten von früh bis spät schuften müssen. Fast jede Gefangene war stark abgemagert.
»Amelia hat Schreckliches durchgemacht«, sagte Charlton zu seiner Frau. »Kein Wunder, dass sie an Gewicht verloren hat.«
Sarah hob den Kopf und lächelte Charlton zu. In ihm hatte sie einen Verbündeten gefunden, das spürte sie.
»Du hast Recht«, erwiderte Edna zerknirscht.
»Ziehen wir uns in den Salon zurück, meine Damen.« Charlton erhob sich.
Ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre, nahm Sarah ihren Teller und ihr Besteck, um beides in die Küche zu tragen, wie sie es aus dem Gefängnis gewöhnt war.
Edna traute ihren Augen nicht. »Aber Kind, was tust du? Polly wird den Tisch abräumen.«
Sarah erstarrte. »Oh. Ja, natürlich«, erwiderte sie hastig. Sie warf einen kurzen Blick auf Ednas entgeisterte Miene. »Entschuldige. Ich … ich bin immer noch ganz durcheinander.«
»Schon gut, Liebes«, beruhigte Charlton sie in freundlichem Tonfall. »Das wird schon wieder, dafür werden Edna und ich sorgen.« Er schob sie sanft in den Salon. »Einen Brandy?«
»Nein, danke«, antwortete Sarah. Sie hatte Angst, der Alkohol könnte ihre Zunge lösen. Ihr waren schon genug Patzer unterlaufen. Sie musste so schnell wie möglich fort von hier, bevor die Ashbys herausfanden, dass sie nicht Amelia Divine war.
Edna und Sarah setzten sich, während Charlton seiner Frau ein Glas Portwein reichte und sich selbst einen Brandy einschenkte. Dann trat er langsam an den Kamin. Seine Miene war ernst geworden. Sarah konnte ihm ansehen, dass er im Begriff war, ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Sie verschränkte ihre zitternden Hände ineinander und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihre größte Sorge war, Charlton könnte ihr Fragen über ihr Leben oder das der Familie Divine stellen.
»Als deine Vormünder tragen wir die Verantwortung für dich, Amelia«, begann er. »Wir müssen an deine Zukunft denken.«
Sollte sie den Ashbys schon von ihren Plänen erzählen? Doch Sarah entschied sich dagegen. Sie würde sich das Ganze erst gründlich durch den Kopf gehen lassen, damit sie auf mögliche Fragen vorbereitet war. Sie musste schließlich die Ashbys irgendwie dazu bewegen, ihr das Geld für die Rückkehr nach England zu geben.
»Ich kann verstehen, dass du im Schmerz über den Tod deiner Angehörigen nicht über deine Zukunft sprechen möchtest«, fuhr Charlton fort. »Aber du sollst wissen, dass wir unsere Verpflichtung sehr ernst nehmen.«
»Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst, Onkel.« Edna hatte ihr gesagt, sie solle Charlton mit »Onkel« anreden.
»Die Anwälte deiner Eltern werden sich bald mit uns in Verbindung setzen. Aber uns ist natürlich bekannt, dass du an deinem zwanzigsten Geburtstag, der ja nicht mehr fern ist, dein Erbe antreten wirst. Wie du sicherlich weißt, handelt es sich um ein beträchtliches Barvermögen. Hinzu kommen Immobilien und Wertpapiere.«
Sarah starrte ihn offenen Mundes an. Sie hatte sich gedacht, dass Amelias Familie sehr reich war – wie die Ashbys offensichtlich auch –, doch einen solchen Reichtum
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