Die Insel der roten Mangroven
hochbeinige, aus England importierte Tiere. Nora genoss den Ritt auf ihrer eleganten Braunen, auch wenn sie mit ihr nicht so schnell vorankam wie Deirdre auf Alegría.
»Das ist sicher auch eine Frage der Ausbildung«, bemerkte sie ihrer Tochter gegenüber. »Im Galopp kommen sie bestimmt gut voran, wenn man sie gehen lässt. Die Rasse hat doch Feuer. Warte ab, wenn ich mich erst mal an die Kleine hier gewöhnt habe, fordere ich dich zu einem Rennen.«
Deirdre lachte. »Und hinterher zieht dir der Stallmeister das Fell über die Ohren«, erwiderte sie. »Es ist gewollt, dass die Pferdchen sich so langsam bewegen. Die Pflanzer hier haben es nicht eilig, es soll eher bequem sein und graziös aussehen.«
Sie ritten gemächlich die gut befestigte Straße zum Dorf der Schwarzen entlang. Der Weg zwischen Herrenhaus und Sklavenquartier war nur kurz, führte aber in eine völlig andere Welt. Victor lenkte sein Pferd an Noras Seite. Er wollte sie noch ein wenig vorbereiten auf das, was sie erwartete.
»Es ist natürlich nicht so, dass die Sklaven hier immer gesund sind«, kam er auf die Behauptung seines Vaters zurück. »Im Gegenteil, die Zustände sind katastrophal! Und da spielt natürlich vieles mit – auch dieser Macandal trägt eine Mitschuld. Natürlich bringt man beinahe Verständnis für ihn auf, wenn man meinen Vater, meinen Bruder und die anderen Pflanzer so hört. Aber man muss auch sehen, was er den Sklaven mit dieser Rebellion antut. Gegen die richten sich nämlich alle Repressalien, die bei Macandal nicht ankommen. Es war schon immer verboten, dass sich die Sklaven verschiedener Plantagen zusammenrotten. Früher hat man meist ein Auge zugedrückt,wenn ein Heiler von einer Pflanzung zur anderen ging oder ein pacotilleur Wundermedizin anpries oder einfache Heilkräuter verkaufte. Jetzt allerdings lässt die Angst vor Macandal und seinen Einflüsterungen die Sklavenquartiere zu Festungen werden. Neuerdings werden selbst die Latrinen mitten im Dorf angelegt, damit nachts keiner einen Grund hat, sich rauszuschleichen. Das lockt natürlich Fliegen an.«
Nora nickte aufgeregt. »Hast du nicht auch schon beobachtet, dass dadurch die Fieberrate steigt?«, erkundigte sie sich begierig.
»Dadurch oder durch die Stechinsekten«, erwiderte Victor. »Und wenn die Latrinen erst überlaufen, ist der Gestank bestialisch … Wobei das hier noch harmlos ist, da müsst ihr erst mal die Quartiere bei Gérôme sehen! Und als ob das alles noch nicht genug wäre, werden heilkundige Schwarze in der letzten Zeit regelrecht verfolgt. Sie könnten ja Giftmischer sein. Daher rührt auch der Mangel an willigen Helfern, wenn ich in den Sklavenquartieren praktiziere. Die Leute wollen nicht in Verdacht kommen.Wenn sie diesen Macandal nicht bald mal fassen, wird das ganze Land zum Pulverfass.«
Die Atmosphäre im Sklavenquartier war tatsächlich mehr als angespannt und die hygienischen Zustände schlimmer, als Nora sich je hatte vorstellen können. Das Dorf lag mitten in der Kaffeepflanzung, und obwohl die Plantage riesig war, gestand man den Schwarzen nur eine kleine Lichtung zu. Die Wege zwischen den Hütten waren eng und schlammig, und über allem lag der widerliche Geruch der Latrinen. Die Menschen wirkten beklagenswert unglücklich und überarbeitet.
Nora bemerkte gleich, dass die Leute den Weißen misstrauten, selbst dem Arzt, der sich schließlich mit der eigenen Familie anlegte, um ihnen zu helfen. Am aufgeschlossensten zeigten sich noch die Frauen, vor allem Deirdre gegenüber. Die junge Arztfrau verschenkte neben medizinischen Ratschlägen freigebig Tand, den sie in Cap-Français in den Hafenläden kaufte. Ein paar bunte Tücher oder Ohrringe öffneten ihr die Herzen und lösten die Zungen.
Victor erklärte, dass die weiblichen Schwarzen es zurzeit besonders schwer hätten. »Die Kaffeeernte hat begonnen«, sagte er und reinigte eine entzündete Wunde an der Hand einer Pflückerin. »Mein Vater setzt da sehr gern Frauen ein. Sie haben geschicktere, kleinere Hände. Und er erwartet mindestens hundertsechzig Pfund Kaffeekirschen pro Tag von jeder Pflückerin, besser zweihundert. Das ist kaum zu schaffen, aber die Aufseher treiben die Frauen erbarmungslos an.« Vorsichtig trug er Salbe auf die Hand seiner Patientin auf und legte einen Verband an. »Und nun wirst du zwei Tage pausieren und diese Wunde sauber halten!«, wandte er sich an die junge Frau. »Wenn da immer wieder Saft von den Kirschen rankommt und Schmutz, dann
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