Die Insel der roten Mangroven
gleich wieder an Macandal denken, seine Schwiegermutter sicherlich auch. »Giftig sind sie nicht, das wäre wohl auch zu einfach«, neckte er sie. »Aber für uns sind nur die Bohnen interessant, in jeder Kirsche befinden sich zwei. Im Anschluss an das Pflücken muss also das Fruchtfleisch entfernt werden. Wir machen das hier. Wartet, ich zeige es euch, da drüben sind die Anlagen.«
Victor führte seine Gäste zu einer Ansammlung mehr oder weniger offener Schuppen neben einem Bachlauf, und die Fortnams beobachteten die Sklaven der Dufresnes beim Schlämmen der Kaffeefrüchte und beim Lösen des Fruchtfleisches unter fließendem Wasser – man hatte vom Bach Waschrinnen abgegeleitet. Große Wannen, gefüllt mit Wasser, standen für die Fermentation der Kaffeebohnen bereit. Zu ihrem Entsetzen entdeckte Nora eine Gruppe kleiner Mädchen, die unter einem Baum saßen und eifrig die Pergamenthüllen von den Bohnen schälten.
»Wie viele Stunden machen sie das am Tag?«, fragte sie Victor.
Der zuckte die Schultern. »Ich will es gar nicht wissen. Immerhin sitzen sie im Schatten. Die Pflückerinnen stehen oft stundenlang in der prallen Sonne, und viele von ihnen sind nicht viel älter.«
Nora presste die Lippen zusammen. Auf Cascarilla Gardens wurden so kleine Kinder noch nicht zu ernsthafter Arbeit herangezogen. Aber dort baute man ja auch keine Schlösser …
Der Besuch auf der Plantage hatte Noras ohnehin schon begrenzte Begeisterung für das feudale Leben der Dufresnes weiter gedämpft. Sie musste allerdings zugeben, dass sie selten auf einer prunkvolleren Abendveranstaltung gewesen war als der, die Louise Dufresne eigens gab, um die Fortnams ihren Nachbarn und Freunden vorzustellen. Diese unterschieden sich nicht wesentlich von den Pflanzern auf Jamaika. Alle waren selbstzufrieden, trugen ihren Reichtum zur Schau und erschienen mit Legionen von Leibdienern und Zofen, um fortwährend umsorgt zu werden. Einige postierten beim Bankett schwarze Vorkoster hinter ihren Sitzen. »Das soll natürlich kein Misstrauen ausdrücken, Louise, Liebste, aber diese unselige Geschichte mit diesem Macandal …«
Victor seufzte innerlich. »Macandal arbeitet längst mit langsam wirkenden Giften, Mesdames und Messieurs«, bemerkte er. »Sie nähmen also höchstens ein paar Schwarze mit in den Tod, wenn es uns hier träfe. Retten würden die Vorkoster Sie nicht.«
Die Schwarzen hörten sich das stoisch an. Nora fragte sich, was in ihren Köpfen vorging, und schämte sich für deren Herren, doch sie machte brav Konversation und versuchte, möglichst keine strittigen Themen anzuschneiden.
Doug hatte sich darauf verlegt, nicht mehr an Macandal zu denken und zu essen statt zu reden. Er genoss die raffinierte französische Küche und bemühte sich, die damit verbundenen Gefahren zu verdrängen.
Beide Fortnams behielten bei all dem ihre Tochter im Auge, aber hier mussten sie sich keine Sorgen machen. Wohlgefällig nahmen sie wahr, dass Deirdre sich gemeinsam mit ihrem Mann amüsierte. Die zwei flirteten und tanzten – in der jungen Ehe schien sich alles zu normalisieren. Ein ominöser Liebhaber oder Exliebhaber zeigte sich auch nicht im Umfeld der alten Dufresnes. In der Gesellschaft der Pflanzer gab es zwar mehr jüngere Leute als in Cap-Français, Deirdre interessierte sich jedoch allein für Victor.
»Da scheint wirklich alles vorbei zu sein«, meinte Nora zufrieden, als sie sich schließlich am späten Abend in ihrer luxuriösen Suite an Doug schmiegte, während vor dem Haus der Tropenregen auf den Park der Dufresnes und die ohnehin schon feuchten Sklavenquartiere niederging. »Wenn sie jetzt noch irgendwann schwanger wird … Ich denke, dann wird alles gut.«
KAPITEL 10
A m nächsten Morgen hatte sich der Regen gelegt, aber die Sonne zeigte sich nur zaghaft. Die jungen Dufresnes und die Fortnams ritten durch dichten Bodennebel, als sie zu dem vereinbarten Besuch bei Gérôme und Yvette aufbrachen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es irgendwo noch feuchter sein könnte als auf Jamaika«, bemerkte Nora.
Es war sehr warm, und die Feuchtigkeit schien sich durch ihre Kleidung zu stehlen. Sie fühlte sich wie durch lauwarmes Wasser gezogen, und das Gefühl, Wasser zu atmen, war wieder da wie damals bei ihrer Ankunft in der Karibik.
Doug zuckte die Schultern. »Für den Kaffeeanbau ist das ideal, nicht wahr, Victor? Und dem Zuckerrohr wird’s auch nicht schaden. Aber, schaut mal! Himmel, träume ich, oder schwebt da
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