Die Insel der roten Mangroven
dich nicht beunruhigen. Aber ich verfolge solche Fälle … in allen Kolonien. Ich …«
»Solche Fälle?«, fragte Nora und funkelte ihren Mann an. »Was für … ›Fälle‹? War die Sache mit Deirdre, meine Entführung, nur ein ›Fall‹ für dich?«
Doug umfasste ihre Oberarme und zog sie zu sich herum. »Herrgott, Nora, nun sei nicht so empfindlich und dreh mir vorallem nicht das Wort im Munde herum. Mit ›Fälle‹ meine ich die Geschichten von Mulatten – oder eher Mulattinnen, die sich als Weiße in der Gesellschaft bewegt haben. Offen oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Mit oder ohne Freibrief. Und da gibt es hochdramatische Geschichten! Eine Frau auf Barbados zum Beispiel – die Tochter eines Plantagenbesitzers und der Zofe seiner Frau. Auch die Sklavin war schon sehr hellhäutig. Das Kind wurde regelrecht ›gezüchtet‹, weil seine weiße Gattin keine Kinder bekam. Die Missis täuschte eine Schwangerschaft vor, während ihre Dienerin das Baby austrug. Das Mädchen soll eine Schönheit gewesen sein, gehätschelt und geliebt, hochgebildet. Schließlich wurde es auf eine große Plantage verheiratet … und gebar übers Jahr ein Kind, das wie ein reinblütiger Neger aussah! So was kommt vor … Manchmal überspringt eine Ähnlichkeit eine Generation. Himmel, du kennst das doch von den Pferden, Nora! Sieh dir Alegría und Attica an. Vollschwestern. Doch die eine sieht aus wie ein Englisches Vollblut und ist schwarz, die andere kommt nach dem arabischen Vater und ist zierlich und weiß. Wenn du sie morgen von irgendeinem beliebigen Hengst decken lässt, Nora, dann kann sie ein hochbeiniges schwarzes Fohlen gebären!«
Nora biss sich auf die Lippen. »Was … wurde aus dem Mädchen?«, fragte sie heiser.
Doug seufzte. »Der Mann verdächtigte sie der Affäre mit einem seiner Neger – wobei man es hätte belassen sollen, aber die Frau war natürlich genauso entsetzt wie ihr Gatte. Empört stritt sie alles ab … sie wusste ja selbst nichts von ihrer Abkunft. Schließlich gab der Vater die Sache zu, ein Rieseneklat … Die Ehe wurde natürlich annulliert, wobei die Verbitterung so weit ging, dass man sich noch darum stritt, wem denn jetzt die beiden Sklaven – also die junge Frau und das Kind – gehörten. Wegen dieser Rechtsstreitigkeiten habe ich davon erfahren. Letztendlich kaufte der Vater seine Tochter und sein Enkelkind ihremEhemann und Vater ab! Er ließ beide frei und schickte die junge Frau nach Europa. Was sie dort tut, weiß ich nicht. Das schwarze Kind wächst bei der leiblichen Großmutter auf …«
Nora atmete auf. »Das hätte schlimmer kommen können …«, murmelte sie.
Doug schnaubte. »Willst du schlimmere Geschichten hören? Da gab es eine Frau in Louisiana – auch Mulattin, sehr hübsch, sehr hellhäutig, Sklavin auf der Plantage ihres leiblichen Vaters. Sie floh, stahl die Papiere einer Weißen und ihren Koffer gleich dazu und schwindelte sich gekonnt durch. Schließlich heiratete sie einen vermögenden Mann, lebte als Weiße – bis das Ehepaar ihrem Erzeuger über den Weg lief. Der ließ das Ganze sofort auffliegen, wollte seine Sklavin zurück … Die junge Frau hat sich umgebracht. Oder, auch Amerika, die behütet aufgewachsene Tochter eines Witwers. Ein Neider ihres Gatten trieb ihre schwarze Mutter auf, eine Barsängerin. Die Frau endete im Bordell.« Doug holte tief Luft. »Und Deirdre … Nora, in dem Moment, in dem ihr Gatte ihren Freibrief zerreißt, ist sie eine Schwarze wie jede andere! Gut, niemand wird das wagen, solange wir leben, und vor allem, solange ich Einfluss habe. Aber wir leben nicht ewig! Und um meinen Einfluss zu behalten, muss ich ständig Zugeständnisse machen. Ein Gefallen hier, ein Gefallen da – gegenüber dem Gouverneur, der Pflanzervereinigung … Verzieh nicht schon wieder das Gesicht, Nora, ich mache das gern! Ich liebe Deirdre, wie oft soll ich es noch sagen. Sie ist hier nur nicht sicher, Nora! Nicht so sicher, wie wir es uns wünschen!«
Nora zerrieb die Orchideenblüte zwischen ihren Fingern. »Sie wäre das hingegen auf Hispaniola?«, fragte sie heiser. »Würde sich ihre … Geschichte nicht auch da herumsprechen? Würdest du sie Victor verheimlichen wollen?«
Doug schüttelte den Kopf. »Saint-Domingue ist französisch«, antwortete er dann.
Nora stieß scharf die Luft aus. »Und? Halten die Franzosen keine Sklaven? Oder gehen sie schonender mit ihnen um? Also bisher habe ich diesbezüglich nichts
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