Die Insel der roten Mangroven
jungen Frau sah mal wieder wild aus nach dem Ritt. Die Ringellocken fielen offen über ihren Rücken, ihren Hut hatte sie wohl verloren. Ihre Wangen waren von Sonne und Wind gerötet, und ihre Augen strahlten um die Wette mit denen ihres Begleiters. Auch Victor Dufresnes Gesicht hatte die leichte Blässe, die sicher noch vom stundenlangen Sitzen in den Studierstuben Paris’ und Londons hergerührt hatte, inzwischen verloren. Seine Haut war gebräunt, sein Haar ebenso wirr wie Deirdres. Lange dunkle Strähnen umspielten sein Gesicht, kaum zu bändigen durch die Bourse, die er stets trug. Zum Flechten seines Haares nahm sich dieser Mann offenbar keine Zeit – und er schien auch keinen Leibdiener zu beschäftigen.
»Daddy!« Deirdre lief auf ihren Vater zu, den sie drei Tage nicht gesehen hatte, und umarmte ihn stürmisch. »Wie schön, dass du wieder da bist und Victor noch antriffst! Er wollte eigentlich noch heute nach Kingston, aber … Vielleicht bleiben Sie doch noch, Victor? Bis morgen? Oder noch besser bis Sonntag, dann könnten Sie mit auf den Ball der Keensleys am Samstagabend. Bitte, ich würde mich da sonst zu Tode langweilen!« Sie strahlte Victor Dufresne an und schaute dann spitzbübisch von ihm zu ihrem Vater hinüber. »Wir könnten dann auch noch länger französisch üben. Papà, il faut certainement que tu fasses encore des exercices! «
Doug drohte seiner Ziehtochter scherzhaft mit dem Finger. »Sei vorsichtig, was du sagst, Mademoiselle. Ich brauche ganz sicher keinen zusätzlichen Unterricht. Wenn Monsieur Dufresne und ich uns richtig unterhalten, verstehst du garantiert kein Wort!« Doug vertrat auch Klienten aus dem französischen Sprachraum und hatte sicher mehr Übung in Kommunikation als Nora, die seit zwanzig Jahren kein Französisch mehr gesprochen hatte, und Deirdre, deren Sprachkenntnisse sich auf Lehrbuchwissen beschränkten. Im Moment schien sie allerdings große Fortschritte zu machen, den letzten Satz hatte die junge Frau schon ganz fließend herausgebracht. »Aber Sie sind natürlich herzlich eingeladen, mit uns zu Abend zu essen, Dr. Dufresne«, fügte Doug hinzu. »Egal, in welcher Sprache wir das Tischgespräch führen. Ich würde mich sehr gern noch etwas länger mit Ihnen unterhalten.«
»Ich nehme sehr gern an, Monsieur Fortnam«, erwiderte Victor höflich. »Schon um die Gesellschaft Ihrer wunderschönen Tochter noch etwas genießen zu können. Allerdings … werde ich mich vorher noch etwas frisch machen müssen.«
Er sah mit entschuldigendem Lächeln an sich hinunter, doch Nora dachte im Stillen, dass sein Aufzug beim Reiten nicht halb so gelitten hatte wie neulich der des jungen Keensley. Nun trug Dufresne auch keinen Abendanzug, sondern praktische Breeches und feste Stiefel. Bei Doug Fortnam machte er damit unzweifelhaft Punkte.
»Das trifft wohl auch für meine Tochter zu«, bemerkte Nora mit gespielter Strenge. »Du siehst aus, als seist du in einen Hurrikan geraten, Deirdre Fortnam!«
Deirdre lachte glücklich. »Ein bisschen fühl ich mich auch so!«, wisperte sie ihrer Mutter zu, als sie sah, dass Victor mit ihrem Vater sprach und nicht mithörte. »Victor ist wundervoll, Mommy! So klug, so zuvorkommend! Und gut aussehend! Findest du nicht, dass er aussieht wie … wie ein echter Lord?«
Nora biss sich auf die Lippen. Es war wirklich so, als hätte sich Simon Greenboroughs freundlicher Geist wieder zu ihnen gesellt. Um dieses Mal ihre Tochter zu befreien und glücklich zu machen.
»Aber das Beste weißt du noch gar nicht!«, führte Deirdre vergnügt weiter aus und hakte ihre Mutter unter. »Er hat Alegría und mich auf Attica geschlagen. Reiten kann er also auch noch!«
KAPITEL 6
N ach dem kindischen »Rachefeldzug« gegen die weißen Bewohner der Hafensiedlung auf Grand Cayman versuchte Bonnie, etwas Abstand von Jefe zu halten, aber es fiel ihr schwer, auf seine Gesellschaft zu verzichten. Schon nach kurzer Zeit vermisste sie seine tiefe Stimme – sogar das schiefe Grinsen, mit dem er Máanus häufige Tadel und Vorwürfe zu quittieren pflegte. Vor allem fehlte ihr jedoch sein unbekümmertes Wesen. Jefe schien vor nichts auf der Welt Angst zu haben, während Bonnie sich vor so ziemlich allem fürchtete. Ihr Backra konnte schließlich schon in die harmloseste Frage oder in die alltäglichste Handlung seiner Sklavin Renitenz hineindeuten, die er sofort gnadenlos bestrafte. Wahrscheinlich hatte Máanu Recht, und es machte ihm einfach Spaß, Bonnie zu
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