Die Insel der roten Mangroven
Fragen gestelltwie ich«, berichtete Victor. Er wurde jetzt ruhiger, griff nicht erneut nach dem Schnaps, sondern nahm das Weinglas, das Deirdre ihm reichte. »Eine afrikanische Sklavin – das Mädchen kam wohl erst mit einem der letzten Schiffe hier an – kann unmöglich in so kurzer Zeit so viel Wissen über heimische Giftpflanzen erwerben, dass sie einen solchen Trank zusammenstellen könnte. Das wäre auch schwierig. Ich als Arzt könnte es zum Beispiel nicht, ich habe bis heute keine Idee, welches Gift da im Spiel war. Also muss sie das Zeug von irgendjemandem bekommen haben.«
»Von einem der pacotilleurs ?«, fragte Deirdre. Ihr schwante langsam, warum Jacques Dufresne diese fliegenden Händler nicht auf seiner Plantage wollte.
»Zum Beispiel«, entgegnete Victor. »Und noch eine Sache kommt hinzu: Es ist nicht der erste Giftmord dieser Art! Bei Port-au-Prince hat es schon eine Familie getroffen und eine weitere bei Mirebalais. Wie es aussieht, hatten die Leute die gleichen Symptome, zumindest das Vorgehen war das gleiche. Den Leuten wurde das Gift von Haussklaven ins Essen gemischt. Insofern nicht ganz unverständlich, dass die Gendarmerie zu recht … drastischen Mitteln griff, um die Informationen aus dem Mädchen herauszubekommen. Auch wenn ich …« Er ließ den Satz unvollendet und schüttete den Wein so schnell hinunter wie eben den Schnaps. Deirdre füllte ihm nach.
»Und was hat sie dann schließlich gesagt?«, fragte sie neugierig.
Victor rieb sich die Stirn. »Dass es eine große Sache ist. Am Schluss hat sie es uns ins Gesicht geschrien. Das Ende der weißen Herrschaft sei da, sagte sie. Sie sei nur eine der Ersten von vielen, sehr vielen, die zuschlagen würden. François Macandal sammle eine Armee, letztlich würden sich ihr alle Sklaven von Hispaniola anschließen. Sie würden siegen, sagte sie … sie würden siegen …«
Victor vergrub das Gesicht in den Händen. »Man wird sie morgen auf dem Marktplatz hinrichten«, endete er schließlich. »Die Bürger sind aufgefordert, ihre Sklaven hinzubringen, man will ein Exempel statuieren. Aber wir werden unsere zu Hause lassen, auf jeden Fall Nafia. Wenn es sein muss, bescheinige ich ihr und den anderen eine ansteckende Krankheit. Das … das sollen sie sich nicht ansehen müssen …«
Deirdre nickte und strich über sein Haar. Streng genommen waren Nafia, Amali und Lennie ohnehin keine Sklaven mehr. Sie hatte ihr Vorhaben wahr gemacht, die Freibriefe für ihre Leute lagen bereits zur Beglaubigung beim Notar.
»Wer ist François Macandal?«, fragte sie.
KAPITEL 6
E in Mistkerl, der den de Macys weggelaufen ist.«
Jacques Dufresne hatte sich über Assams Auftraggeber kundig gemacht, kaum dass er von den Hintergründen der Giftmorde erfahren hatte. Nun berichtete er von den Ergebnissen. Deirdre hatte darauf gedrängt, die Stadt zu verlassen, und so verbrachten Victor und sie auch das nächste Wochenende auf dem Land. Victor war immer noch erschüttert, und auf dem Marktplatz rauchte wohl noch der Scheiterhaufen, auf dem man die Sklavin Assam hatte brennen lassen. Der junge Arzt hatte die Frau auf ihrem letzten Weg begleitet und dafür gesorgt, dass sie nicht mehr viel spürte, sie war ja schon nach der Folter mehr tot als lebendig gewesen.
Das Ganze hatte Victor sehr mitgenommen, und auch sonst herrschte eine bedrückende Atmosphäre bei den jungen Dufresnes. Amali, Nafia und die Köchin waren weisungsgemäß im Haus geblieben, als die Hinrichtung vollzogen worden war, Lennie hatte sich jedoch nicht nehmen lassen, das Spektakel zu verfolgen. Er wirkte jetzt verschreckt, aber auch hasserfüllt. Amali redete pausenlos auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Schließlich verbrannten nicht alle Weißen auf Hispaniola ihre Sklaven, und zudem bestand für ihn und seine Familie ohnehin keine Gefahr mehr. Die junge Schwarze merkte, dass Lennie die Bedeutung der Freibriefe noch nicht ganz erfasst hatte.
Jedenfalls fand es Deirdre angebracht, das Haus und die Stadt erst einmal zur Ruhe kommen zu lassen. Sie überredeteVictor dazu, seine Praxis einen weiteren Freitagnachmittag und Samstag zu schließen und nach Nouveau Brissac zu fahren. Die aufgeregte kleine Nafia nahm sie als »Zofe« mit. Das Mädchen konnte sich darüber vor Stolz kaum halten, und Amali und Lennie würden ihr Quartier zwei Tage und Nächte lang für sich haben. Das sollte Lennie auf andere Gedanken bringen.
Victor kam allerdings nicht zur Ruhe. Auch auf der Plantage waren
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