Die Insel Der Tausend Quellen
auch nicht aus ihrer Lauschaktion. Aber das war ziemlich egal, sie brauchte den Sklaven ja nur zu folgen. So schwer konnte das nicht sein, sie würde einfach vorgeben, früh zu Bett gehen zu wollen, und Máanu freigeben, sobald sie ihr Haar gelöst und es für die Nacht gebürstet hatte. Dann brauchte sie sich nur wieder anzukleiden und ungesehen zu den Sklavenquartieren hinüberzuhuschen. Die Büsche und Bäume, welche die Hütten vom Haus aus verbergen sollten, boten ausreichend Deckung, selbst wenn jemand vorbeikam. Ausgeschlossen war das nicht. Falls die Versammlung im Hüttendorf stattfand, mussten die Pferdeknechte, die im Stall schliefen, am Haupthaus vorbei.
Nora glaubte allerdings an einen anderen Versammlungsort. Wenn die Obeah-Zusammenkünfte auch nur das Geringste mit christlichen Messen zu tun hatten, so würde man dabei singen und laut beten. Im Hüttendorf, an dessen Rand auch die Aufseher wohnten, war das viel zu gefährlich. Die Versammelten würden sofort erwischt werden.
Nora verbrachte den Rest des Nachmittags und des Abends in nervöser Anspannung, und Máanu schien es nicht anders zu gehen. Das Mädchen war nachlässig und ungeschickt, es ließ Dinge fallen und zog Kamm und Bürste so ungeduldig durch Noras langes Haar, dass es ziepte. Nora musste sich beherrschen, ihre Zofe nicht anzufahren, aber sie wollte sie auf keinen Fall ärgerlich machen. Vielleicht würde sie ihre Hilfe brauchen, um sich bei der Versammlung einzuschleichen.
Letztendlich atmeten beide auf, als Máanu sich mit einem höflichen »Gute Nacht, Missis« verabschiedete. Nora wartete, bis sie das Haus mit ziemlicher Sicherheit verlassen hatte, dann band sie ihr Haar rasch im Nacken zusammen und schlüpfte in ein bequemes Hauskleid. Kein Korsett und kein Spitzenblüschen, es musste schnell gehen, und sie musste so beweglich wie möglich sein. Allerdings brauchte sie einen Schal, einen möglichst dunklen. Ihr Kleid war dunkelgrün, aber ihr Haar mochte im Mondlicht gesehen werden. Sie griff nach einem Schultertuch aus dunkelroter Seide. Nach kurzer Überlegung verzichtete sie allerdings auf Schuhwerk. Die leichten Seidenpantoffeln würde sie nur ruinieren, falls sie durch den Dschungel musste, und die schweren Reitschuhe machten womöglich Lärm.
Nora nahm den Weg durch die Küche und genoss einen Moment die Luft im nächtlichen Küchengarten. Es roch nach Thymian, Rosmarin und Basilikum, in der schwülwarmen Luft betörende Düfte, die sich mit dem Geruch der Orchideen und Rosen im Park vermischten. Dann tauchte sie ein in die Dunkelheit des Waldes, der wieder andere, schwere und erdige Düfte bereithielt und den Salzgeruch des Meeres erahnen ließ. Sie lief parallel zum Weg durch den lichten Dschungel, aber es fiel ihr nicht schwer, sich zu orientieren. Der Mond stand voll über dem Meer, das man hinter dem Dickicht aus Mangroven und Palmgewächsen nur erahnen konnte. Es war windstill, aber nicht ruhig – unzählige Grillen zirpten, es raschelte im Unterholz, Nachtvögel gaben unheimliche Laute von sich. Nora wusste, dass es sich um Eulen handelte, aber sie hatte nie eine gesehen.
Nun war sie nicht ängstlich, im Gegenteil, sie genoss ihr Abenteuer. Zudem war der Weg ja nicht weit. Nora erreichte die im Mondschein gespenstisch und wie ausgestorben wirkende Sklavensiedlung in wenigen Minuten. Bis jetzt tat sich hier nichts. Alles war dunkel und still, und sie fragte sich mit leisem Schaudern, wie es wäre, ohne jede Kerze, ohne jede Lampe leben zu müssen. Keiner der Sklaven konnte die Nacht zum Tag machen, wie es die Weißen bei ihren Festen, aber auch im Alltag mit ihren Kerzen und Öllampen taten. Allenfalls konnten sie vor den Hütten Feuer entzünden oder sich einen Weg mit Fackeln erleuchten – und Nora meinte sich zu erinnern, dass sie das oft auch taten.
In dieser Nacht war jedoch der Mond die einzige Lichtquelle, und aus keinem der Häuser drang nur der kleinste Laut. Als Nora ein paar Minuten lang im Wald am Rande des Quartiers gewartet hatte, befürchtete sie, die Leute wären bereits aufgebrochen. Aber dann öffnete sich die Tür der ersten Hütte. Lautlos wie die Zombies, von denen sie in einer Gespenstergeschichte gelesen hatte, schoben sich die Sklaven der Fortnam-Plantage aus ihren Häusern und entfernten sich in kleinen Gruppen. Sie gingen den Weg der Feldsklaven zur Arbeit – also musste der Versammlungsort irgendwo zwischen den Zuckerrohrfeldern liegen. Nora wartete so lange, wie sie sich eben traute.
Weitere Kostenlose Bücher