Die Insel Der Tausend Quellen
Adwea und Máanu sowie die kleine Mansah, deren Haus Nora von ihrem Versteck aus gut im Blick hatte, gingen auf jeden Fall mit einer der ersten Gruppen. Nora folgte schließlich Toby und dem alten Hardy, wobei es sie wunderte, dass die zwei sich der heidnischen Veranstaltung zugesellten. Bislang hatte sie die beiden Feldsklaven sowie den Stallmeister Peter stets für die eifrigsten Christen gehalten.
Nora hatte befürchtet, die Sklaven zwischen den Feldern aus den Augen zu verlieren, wenn sie zu großen Abstand hielt, aber dann stellte sie fest, dass es einfach war, ihnen auf der Spur zu bleiben. Sie verloren sich schließlich nicht in den endlosen Wegen zwischen den weitläufigen, immer gleich aussehenden Zuckerrohrfeldern. Stattdessen wanderten sie über den tagsüber viel befahrenen Pfad hinaus zur Windmühle – und dann herunter zu den Schuppen, in denen sich Zuckerküchen und Destillationsanlagen befanden. Hier waren auch die Ställe der Ochsen und Maultiere – und zu ihnen gehörte eine große Scheune, in der Heu gelagert wurde. Sie war zurzeit fast leer – Nora erinnerte sich daran, dass Elias den Stallmeister erst am Vortag mit rüden Worten darauf hingewiesen hatte, das Heu aufzufüllen.
»Bis kommt zurück Backra, voll«, hatte Peter geantwortet.
Nora hatte sich beiläufig gefragt, weshalb der alte Diener den Rüffel überhaupt riskiert hatte. Gewöhnlich war Peter äußerst zuverlässig und hätte nie zugelassen, dass für irgendwelche Tiere das Futter ausging. Nun, jetzt wusste sie es. Die Scheune war in dieser Nacht Versammlungssaal für die Obeah-Zeremonie, und der Stallmeister hatte an ihrer Planung mitgewirkt.
Nora fand den Ort perfekt gewählt – auch für ihre eigenen Zwecke. Sie fürchtete sich etwas vor den Ochsen, die schon mal ausschlagen konnten, wenn etwas sie erschreckte, aber vor den Maultieren hatte sie keine Angst. Also nahm sie einfach den Weg durch die Ställe und versteckte sich in einem Verschlag, in dem zwei Maultierstuten Heu kauten. Von hier aus sah sie zwar nichts, hörte aber Stimmengewirr aus der Scheune. Bislang hatten die Sklaven geschwiegen, hier jedoch fühlten sie sich sicher, und sie redeten nervös, ja fast hysterisch, aufeinander ein. Für sie war dies ein Abenteuer mit einem gewissen Gefahrenpotenzial. Natürlich würde der Backra sie nicht alle auspeitschen oder gar verkaufen, wenn man sie erwischte, aber mit Strafen hätten sie doch zu rechnen. Und der Obeah-Mann, oder wie man den Priester nannte, würde sicher von der Plantage entfernt.
Nora wartete geduldig, bis sich offensichtlich alle versammelt hatten und zur Ruhe kamen. Dann verließ sie den Verschlag und huschte zur Verbindungstür zwischen Stall und Scheune. Leider war sie zu, womit Nora nicht gerechnet hatte. Es schloss doch niemand eine Tür zwischen Stall und Heulager ab! Nora betätigte die Klinke und rüttelte ein wenig an der schweren Tür in der Hoffnung, von niemandem drinnen bemerkt zu werden.
Aber dann flog die Tür plötzlich auf, als wäre ein Riegel zersprungen. Der Druck, mit dem Nora sich dagegengelehnt hatte, katapultierte sie in die Scheune – und fast in die Arme der Köchin Adwea!
Starr vor Schreck standen sich die beiden Frauen gegenüber. Adwea hatte ganz sicher mit einem der ihren gerechnet, offensichtlich hatte sie vor der Tür gesessen und sie damit blockiert. Als dann jemand daran rüttelte, hatte sie sich erhoben und den Eingang freigemacht. Adwea mochte sonst wen erwartet haben – aber ganz sicher nicht ihre weiße Herrin!
»Missis … bitte, Missis …«, stammelte sie.
Nora legte den Finger an die Lippen. »Psst! Mach kein Aufsehen. Ich verrate nichts, ich will nur zugucken!«
Adwea runzelte die Stirn, aber dann schlich sich ein breites Lächeln über ihre Züge.
»Missis neugierig?« Es war eine Mischung zwischen Frage und Tadel.
Nora zwinkerte ihr zu. »Furchtbar neugierig!«, gestand sie. »Ich störe bestimmt nicht. Lass mich nur hier bei dir sitzen. Niemand wird mich sehen.«
»Geister Sie sehen!«, erklärte Adwea.
Nora hob die Augenbrauen. »Die werden mir schon nichts tun«, meinte sie.
Adwea schüttelte den Kopf. »Nein, nichts tun, Geister freundlich. Meistens. Kwadwo rufen freundlich Geister.«
Damit wies sie auf den Platz neben sich, und Nora zog ihr Tuch so dicht wie möglich um sich. Im Dunkeln würde sie hier in der äußersten Ecke der Scheune sicher nicht auffallen. Nora fragte sich, warum Adwea, die unter den Sklaven eigentlich einen hohen
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