Die Insel Der Tausend Quellen
Destillerie umreißen müssen. Es war, als ob Baum und Haus sich aneinander festklammerten. Aber der Wind fetzte das Laub von den Zweigen und knickte die Krone. Die Katze floh nach unten, saß nun knapp über Nora und Doug und wirkte auf einmal fast kleinlaut. Immerhin krallte sie sich an der Baumrinde fest.
Ruth schaffte es nun wirklich, sich mit eigener Kraft festzuhalten, schrie aber wie von Sinnen nach ihren Kindern. Sie versuchte, sie loszubinden und an sich zu ziehen. Es gelang ihr schließlich auch bei dem Jüngeren – aber sein Anblick in ihrem Arm löste nur erneute Schreie aus.
»Er ist tot … o Gott, er ist tot …«
Doug und Nora sahen einander hilflos an. Sie konnten das nicht nachprüfen, aber es war möglich, sogar sehr wahrscheinlich.
»Ich will zu ihm … Ich will auch sterben!« Ruths Finger lösten sich von den ästen – und auch von dem winzigen Bündel. Doug versuchte noch, danach zu fassen, aber dann sahen sie den Körper von Ruth Stevens’ jüngstem Kind im Strudel des wild dahinrasenden Wassers davontreiben. Ruth gab einen fast unmenschlichen Ton von sich und versuchte, nach der Katze zu greifen.
»Sie lebt, das verfluchte Vieh lebt, und mein kleiner Sam …«
Nora tastete sich zu ihr vor. Sie hasste sich für das, was sie zu tun hatte, aber sie gab der jungen Frau zwei schallende Ohrfeigen. Ruth verstummte daraufhin und verfiel in erneute Apathie.
»Bind sie fest!«, schrie Nora gegen den Sturm an. »Bind sie fest, bevor sie sich selbst und das andere Kind auch noch umbringt!«
Doug richtete sich mühsam auf, schnitt neue Stofffetzen von Ruths Kleid und vertäute ihre Hände fest mit zwei ästen. Er dankte den Himmel für seine Monate auf See. Bei Sturm und Regen sichere Knoten zu knüpfen, während man in den Segeln hing, hatte er wirklich gründlich gelernt.
Aber Nora sah schon den nächsten Schrecken auf sich zukommen. Neben toten Hunden, Rindern, Bäumen und Sträuchern trieb erneut eine Leiche vorbei. Oder nicht? Das Bündel mit dem kurzen, krausen Haar klammerte sich verzweifelt an einen dicken Ast – und schrie um Hilfe.
Doug Fortnam überlegte nicht lange. Sie hatten ein Kind verloren, aber da war ein anderes dabei zu ertrinken. Er ließ sich ins Wasser gleiten und erreichte das Mädchen mit zwei kräftigen Schwimmstößen. Aber es war nicht so einfach, mit ihm zurück zum Dach zu kommen. Der Sturm trieb ihn gnadenlos ab – aber dann …
»Hier, halt dich fest!«
Nora hatte das schützende Dach verlassen und war Doug in den Baum hinterhergeklettert. Nun lag sie auf einem Ast und zwang ihn mit ihrem ganzen Gewicht herunter ins Wasser. Sie flehte Gott an, dass er nicht brach. Doug griff verzweifelt zu, das kleine Mädchen in seinem Arm ebenfalls. Nora half dem Kind, sich hinaufzuziehen, Doug schaffte es allein. Keuchend und hustend lag er in einer Astgabel. Nora fiel mit Erleichterung auf, dass das Wasser auf dem Dach in den letzten Minuten nicht höher gestiegen war. Ein Hoffnungsschimmer. Das kleine Mädchen wimmerte. Nora erkannte Sally, eins der jüngsten Hausmädchen.
»Sally, woher … Wie kommst du …«
»Bin mit Annie … Haben geredet, in Wald …« Nora brauchte nicht mehr zu hören. Zwei Mädchen, die sich verplaudert hatten, statt brav sofort vom Gottesdienst aus hinauf ins Haus und an die Arbeit zu gehen. »Kam Welle. Riesig große Welle …«
Nora fragte nicht nach Annie. Sie zog die zitternde, weinende Sally an sich und wiegte sie in ihren Armen. Doug legte schließlich die Arme um beide, und sie umklammerten mit den Händen die stärkeren Zweige des Baums. Sie wussten nicht, wie lange sie so verharrten. Nora schloss die Augen, froh, das Wasser nicht mehr sehen zu müssen und das zum Teil grausige Treibgut. Es war so angenehm, Dougs kräftige, schützende Brust im Rücken zu spüren, er schien sie zu wärmen, obwohl auch er vor Kälte und Erschöpfung zitterte. Seine Lippen flüsterten mitunter ihren Namen, und sie meinte, sie manchmal auf ihrem Nacken zu spüren, sanfte, tröstende Küsse wie aus einer anderen Welt. Sie hätte sich ihnen gern ganz ergeben, wäre da nicht Sally gewesen, die haltlos schluchzte und unzusammenhängende Worte stammelte.
»Nur meine Schuld. Geister böse, weil Sally machen böse Sachen. Gott böse, Reverend sagt, nicht tun …«
»Sally, so schlimm ist das nicht«, versuchte Nora zu trösten. »Du hast nur etwas getrödelt. Dafür strafen die Geister dich nicht, da bin ich sicher …«
»Viel schlimmer. Getan viel
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