Die Insel Der Tausend Quellen
sich doch einen Augenblick am Dachfirst fest, bis ich oben bin und Sie heraufziehen kann … Der Wind reißt noch das Kind herunter …«
Nora hatte genug mit sich selbst zu tun, um das Drama weiterzuverfolgen, aber dann erschien plötzlich ein Schatten über ihr. Sie hörte Ruth schreien und beten, sie war also am Leben und umschlang eben ihr Kind. Und endlich nahm Doug ihr das Baby aus dem Arm.
»Kannst du noch, Nora? O mein Gott, lass bloß jetzt nicht noch los!«
Nora schüttelte den Kopf, was in dem Sturm und Regen sicher niemand registrierte, aber dann fühlte sie auch schon Dougs Griff unter ihren Achseln. Er zog sie aufs Dach – wie vor ihr schon Ruth und die Kleinen. Einen Herzschlag lang lag sie in seinen Armen.
»Nora … Nora …«
Doug flüsterte ihren Namen, bevor er sich mit ihr zusammen fallen ließ. Sie sah sein Gesicht im Zwielicht, angestrengt, zu Tode erschöpft, aber er raffte sich gleich wieder auf und kämpfte weiter gegen den Sturm.
»Wir müssen uns irgendwo festhalten. Wenn es schlimmer wird …«
Doug taumelte dem Schornstein der Destillerie entgegen, der wenigstens einen geringen Windschutz bieten würde. Er zerrte Ruth und die Kinder in seinen Schatten.
»Der Baum …«, keuchte Nora. Sie hatte das Gefühl, als risse der Wind die Worte von ihren Lippen.
Hinter dem Haus stand ein gewaltiger Guajakbaum. Die Sklaven pflegten die Maultiergespanne darunter im Schatten anzubinden. Der Stamm war außerordentlich dick – so schnell würde den Baum kein Sturm entwurzeln. Und seine äste reichten bis über das Dach der Destillerie.
Doug nickte. »Wir können uns da anbinden … wenigstens die Kinder … Vielleicht ein bisschen Schutz im Laub finden … Kommen Sie, Mrs. Stevens! So kommen Sie schon!«
Ruth reagierte kaum noch. Doug zerrte sie und die Kinder zum Baum, Nora schleppte sich selbst hinüber. Rötliches, schmutziges Wasser überspülte das Dach.
Doug durchtrennte rasch auch Ruths Röcke und schnitt sie in Streifen, mit denen er die Kinder an die dicksten Zweige des Baumes band.
»Wenn es noch höher steigt«, warnte Nora, »ertrinken sie.«
»Dann ertrinken wir alle«, schrie Doug und zog mühsam einen weiteren Knoten fest. Der Wind riss ihm den Stoff fast aus der Hand.
Nora klammerte sich an den ästen des Baums fest. Sie konnten auch noch etwas höher klettern … Erschöpft und fassungslos verfolgten sie und Doug, wie die Reste des Sklavenquartiers an ihnen vorbeitrieben. Dächer, Hausrat, tote Haustiere … und ein lebendes – Doug zog mit einer raschen Bewegung eine klatschnasse Katze aufs Dach, die ihm sofort die Krallen in den Handrücken schlug. Danach zog sie sich fauchend in den Gipfel des Guajakbaums zurück.
»Sehr dankbar«, stieß Doug aus und rieb die Kratzer an seiner Hand.
Nora schluchzte auf, als eine gewaltige Welle die erste menschliche Leiche gegen ihren Zufluchtsort schleuderte. Der alte Harry.
»Wie kann … er … o Gott!« Nora begann zu schluchzen.
Sie selbst hatte dem alten Sklaven an diesem Morgen erlaubt, in seiner Hütte zu bleiben. Anscheinend hatte niemand daran gedacht, ihn herauszuholen, die Sturmflut musste ihn überrascht haben.
»Er ist auf eins der Dächer geklettert«, sagte Doug wutentbrannt. »Das haben die Sklaven sonst immer gemacht, und er hat es bestimmt wieder getan, als er merkte, dass er allein war. Aber diesmal … Dieser gottverfluchte Hollister!« Er brüllte die letzten Worte in den Wind.
»Nicht … Missbrauchen Sie nicht den Namen des Herrn!« Ruth schien zu sich zu kommen.
»Fluch noch einmal, dann wird sie vielleicht wach und hält sich selbst fest«, rief Nora so laut sie konnte gegen den Sturm.
Ihre Arme schmerzten, und Doug musste es noch schlimmer gehen. Er umklammerte nicht nur einen Ast, um sich selbst zu halten, sondern hielt auch die völlig apathische Ruth. Niemand wusste, was mit den Kindern war, keins von ihnen gab einen Ton von sich, oder man hörte es einfach nicht in dem tosenden Sturm.
Unablässig goss es wie aus Kübeln. Der Wind trieb das Wasser vor sich her, weiter unten schlugen gewaltige Wellen gegen das, was vom Sklavendorf übrig geblieben war. Nora hatte sich bisher nie vorstellen können, dass das Meer über die Ufer treten konnte wie ein Fluss, aber sie hätte auch nie einen derart starken Wind für möglich gehalten. Der Sturm hatte längst ihren Haarschmuck und Ruths strenge Haube fortgerissen. Ihren Baum schien er aber nicht entwurzeln zu können – vorher hätte er die
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