Die Insel Der Tausend Quellen
Ruth.
Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Nora gab die Idee auf, sie ins Haus zu bringen, bevor sie bis auf die Haut durchnässt wurden.
»Kommen Sie ins Küchenhaus«, lud sie die junge Frau stattdessen ein und wies auf den Bau, der an den Versammlungsplatz grenzte. »Ich habe da einen Raum, in dem ich die Kranken behandle, wenn’s regnet. Sie können sich kurz hinlegen, und ich bringe Ihnen eine Erfrischung.«
»Die kranken … Neger?«, fragte Ruth mit allen Anzeichen von Abscheu.
Sie musste von Noras Bemühungen um die Sklaven gehört haben, hatte sie aber nie darauf angesprochen. Nora verbiss sich die Bemerkung, dass die Liege nicht abfärbte.
»Auch die Aufseher, wenn sich einer verletzt hat«, behauptete sie.
Das kam zwar fast nie vor, schien die Frau des Reverends aber zu beruhigen. Sie ließ sich von Nora in Richtung des offenen Gebäudes führen, in dem für die Sklaven gekocht wurde. Einige Wochen zuvor hatte Nora darauf bestanden, dort ein kleines Krankenrevier anzubauen. Sie wurde im Laufe der Zeit immer geschickter im Anmischen von Heilkräutern und Salben und mochte diese, das Verbandsmaterial, das sie zusammengestellt, und andere Hilfsmittel, die sie organisiert hatte, nicht mehr täglich zum Sklavenquartier und zurückschleppen. Außerdem weigerte sie sich, im Schlamm zu praktizieren; schlimm genug, dass sie mehr und mehr mit Durchfallerkrankungen und Fieber konfrontiert wurde, seit die Hütten fast ständig unter Wasser standen. Den Versammlungsplatz hielten die Männer mittels flacher Entwässerungsgräben halbwegs trocken, allerdings lief er eben allen Bemühungen zum Trotz voll Wasser.
Der Regen wurde zusehends stärker, als Nora Ruth zum Küchenhaus begleitete. Wäre der Wind nicht gewesen, hätte sie sich keine besonderen Sorgen gemacht, so aber beschloss sie, Ruth so rasch wie möglich zu verarzten und dann notfalls mit Gewalt zum Haus zu schleppen. Sie dachte an Dougs Warnungen: Es wäre viel zu gefährlich, den Sturm im Küchenhaus abzuwarten, auch wenn das etwas stabiler gebaut war als die Sklavenhütten. Jetzt schon wateten sie durch schmutziges, rötlich verfärbtes Wasser. Es ging so schnell … Wenn es wirklich zu einer Sturmflut kam, hatten sie bestimmt nicht mehr als eine Stunde Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Nora hastete also ins Trockene und suchte zunächst in der Küche nach sauberem Wasser, um ein Tuch für Ruth zu befeuchten. Die junge Frau hielt es gegen ihre Stirn, und Nora gab dem älteren Kind etwas Fruchtsaft, während Ruth das jüngere stillte und dabei über ihre ausbleibende Milch lamentierte. Das Kind schien denn auch nicht zufrieden, es jammerte weiter. Ruth schob es von einer Brust zur anderen. Nora beeilte sich, etwas Tee für sie aufzubrühen, und gab einen Löffel Cascarilla-Sirup hinein, eine aus der Rinde der Pflanze gewonnene Substanz, gemischt mit Honig, die gegen Magenbeschwerden half. Sie sollte auch beruhigend wirken. Nora strich etwas von dem Honig auf ihren Finger und ließ das Baby daran saugen. Dann versuchte sie, ihr Anliegen anzusprechen.
»Ruth, wenn es Ihnen etwas besser geht, müssen wir schleunigst fort von hier … Wenn der Sturm kommt, kann er die ganze Siedlung mitreißen …«
Ruth rieb sich den Nacken mit dem feuchten Tuch. »Das tut gut. Danke, Nora … Aber Sie meinen das doch nicht ernst, dass ein Sturm das ganze Haus … Was ist das bloß für ein Land?«
Nora versuchte, sie zum Schließen ihres Kleides und zum Aufbruch zu bewegen, aber sie reagierte quälend langsam. Erst als Wasser in den Raum drang, schien Leben in sie zu kommen. Nora erschrak nun endgültig. Das Wasser stieg wirklich rasend schnell.
»Kommen Sie, Ruth! Kommen Sie endlich!«
Nora nahm das Baby auf den Arm.
»Ist da noch jemand?«
Eine Männerstimme rief draußen. Nora riss die Tür auf, woraufhin gleich weitere Wassermassen in ihr Krankenrevier schwappten. Sie kannte die Stimme, und eine Woge der Erleichterung stieg in ihr auf.
»Doug? Hier sind wir!«
Nora zog Ruth hoch und sah dann auch Doug in den Raum stürzen. Er nahm das ältere Kind auf und zerrte alle heraus aus der Hütte. Draußen erwartete sie eine fast undurchsichtige Wand aus Regen – und ein Sklavenquartier, das sich längst in eine Art See verwandelt hatte. Das Wasser stand bereits hüfthoch, der Wind schien es vor sich her zu treiben. Er riss an Dougs Haar, sein Zopf hatte sich bereits gelöst. Noras Locken waren im Nu nass und wurden ihr ins Gesicht gepeitscht.
»Nora,
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