Die Insel Der Tausend Quellen
waren. Ich hab den Penny dann dem Weib von unten in den Rachen geschmissen, damit’s ihm mal was zum Essen raufbringt. Hoffe bloß, die Alte hat’s getan …«
Noras fühlte Angst in sich aufsteigen – und gleichzeitig ein warmes Gefühl für den Jungen neben sich. »Das war sehr anständig von dir, Bobby!«, lobte sie.
Der Rotschopf zuckte die Schultern. »Der Pastor sagt: ›Gebt, dann wird euch gegeben‹. Oder so was. Meine Mom glaubt da ja nicht dran, aber irgendwie hat er mich gedauert, Ihr … Lord …«
Der Junge grinste entschuldigend. Und verhielt dann vor einem zweistöckigen Haus, immerhin aus Stein gebaut, zweifellos nach dem großen Feuer. Allerdings sah es auch nach den wenigen Jahrzehnten schon verwahrlost und verwohnt aus.
»Hier ist es. Aber gehen Sie da besser nicht allein rein …«
Ganz Gentleman hielt Bobby Nora die Tür auf, die in einen dunklen, stinkenden Flur führte. Er schien schon zur unteren Wohnung zu gehören, jedenfalls stand die Tür zu einem der Zimmer offen, das für Nora wie die Karikatur eines Salons wirkte. Es gab einen Kamin und alte Sessel davor, Stühle und einen Tisch, aber alles wirkte schmutzig, grau, fadenscheinig – und vor allem schien hier nie jemand aufzuräumen. Überall lagen Stoffreste und alte Kleidung herum.
»Damit handelt die«, klärte Bobby die entsetzte Nora auf. »Die alte Paddington, mein ich, die Wirtin. An-und Verkauf von getragenen Kleidern, am Markttag steht sie damit auf der Cheapside. Und sonst vermietet sie das Haus – wie sie da dran gekommen ist, weiß keiner …«
Aus der Wohnung drang jetzt eine zänkische Stimme.
Bobby zog den Kopf ein. »Kommen Sie schnell rauf, Miss Nora, bevor das Weib Sie bemerkt!«, forderte er Nora auf und schob sie in Richtung einer Holztreppe, die eher den Namen Stiege verdiente.
»Ich hab euch schon gesehen!«, keifte die Frau jedoch gleich hinter ihnen her. »Den Jungen von der Fanny Deary und eine feine kleine Lady. Bist dir wohl zu gut, alten Freunden guten Tag zu sagen, Bobby, was? Und wo willste hin?«
»Hören Sie nicht auf sie«, flüsterte Bobby peinlich berührt. »Meine Mom ist nicht wirklich befreundet mit ihr, sie hat hier nur Kleider verkauft, als mein Alter starb … Besuch für Mr. Greenborough, Mrs. Paddington!«, rief er dann über die Schulter herunter zu der Vettel, die nun am Ansatz der Treppe stand und neugierig zu ihnen hochlugte.
Mrs. Paddington war noch nicht wirklich alt, aber unförmig dick und rotgesichtig. Ihr Haar hing strähnig herunter, ihre kleinen Augen blickten glasig, aber nichtsdestotrotz böse und misstrauisch. Nora meinte jetzt, den aus ihrer Wohnung dringenden Gestank identifizieren zu können: Gin oder irgendein anderer billiger Fusel.
Auch die Zimmer im ersten Stock schienen bewohnt zu sein, man hörte Stimmen hinter den geschlossenen Türen. Aber Bobby kletterte eine weitere schmale, wacklige Stiege hinauf. Nora befürchtete bei jedem Schritt, das morsche, knarrende Holz könnte nachgeben. Oben befand sich nur noch eine einzige Tür, niedrig und offensichtlich aus Altholz gezimmert. Sie wirkte, als hätte sie schon mehr als einen Hausbrand überstanden.
Bobby klopfte, und Noras Herz schlug so heftig, dass sie meinte, es müsse das Hämmern seiner Knöchel auf dem morschen Holz übertönen.
Von drinnen kam jedoch keine Antwort. Ob Simon ausgegangen war? Nora überlegte enttäuscht, wieder zu gehen. Aber dann stieß ihr junger Begleiter ohne weiteres Federlesen die Wohnungstür auf.
»Mr. Greenborough? Ich bin’s schon wieder. Aber diesmal mit besseren Nachrichten!«
Die Stimme des Jungen klang gewollt fröhlich und optimistisch. Nora schob sich hinter ihm ins Zimmer – und hielt vor Entsetzen den Atem an.
Simons Verschlag lag direkt unter dem Dach. Der Raum enthielt keine einzige gerade Wand, und ein paar Eimer, die wahllos verteilt herumstanden, ließen den Schluss zu, dass es durchregnete. Auf jeden Fall musste es im Sommer unerträglich heiß, im Winter eiskalt sein – und es war dunkel, auf den ersten Blick konnte Nora kaum etwas erkennen. Im Kamin brannte kein Feuer. Erst als sich ihre Augen langsam auf das Halbdunkel einstellten, erkannte sie die notdürftige Möblierung – ein Tisch und ein Stuhl, über den Simon nachlässig die Kleidung geworfen hatte, die er an jenem Dienstagabend getragen hatte. Das sah ihm nicht ähnlich. An einem ungeschickt in die Wand geschlagenen Haken hing sein zweites Hemd sehr sorgfältig gebügelt, das zugehörige
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