Die Insel Der Tausend Quellen
noch einiges besprechen, und gegen Abend würde ihr Schiff ablegen. Der Kutscher hielt es für eher unwahrscheinlich, dass Reed zwischendurch noch im Kontor vorbeischaute. Ein Glück für die kleine Miss Nora. Denn was auch immer die dort wollte: Ihren Vater zu sprechen, plante sie auf keinen Fall.
»Hören Sie auf, Miss Nora, ich kann Ihnen nicht sagen, wo Mr. Greenborough wohnt!« Mr. Simpson, der kleine, dickliche Bürovorsteher, verhielt sich, als empfände er Noras Bitte als persönliche Beleidigung. »Das wäre Ihrem Vater nicht recht. Außerdem arbeitet der Mann nicht mehr bei uns. Sie können ihn auf keinen Fall aufsuchen.«
»Vielleicht will ich ihm ja einfach nur einen Brief schreiben«, meinte Nora. »Aber ich brauche seine Adresse!«
Der Mann lachte geringschätzig. »Da wird sich wohl kein Postbote hin verirren«, meinte er. »Bitte gehen Sie jetzt, Miss Nora. Ich muss weiterarbeiten, und ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Sie können sich natürlich auch ins Arbeitszimmer Ihres Vaters setzen und auf ihn warten«, bot George Wilson, einer der jüngeren Sekretäre, ihr beflissen an, als sie enttäuscht auf den Korridor trat. »Vielleicht kommt er ja doch noch vorbei. Ich serviere Ihnen da auch gern eine Tasse Tee.«
Nora wollte zunächst verneinen, entschloss sich dann aber doch, ihren Aufenthalt im Kontor auszudehnen. Vielleicht bot sich ja noch eine andere Gelegenheit, etwas über Simon herauszufinden.
»Mein Vater hat Mr. Greenborough gekündigt?«, erkundigte sie sich, als Wilson ihr den Tee brachte.
Der junge Mann lächelte ihr zu. Es sah bezaubernd aus, wie die zierliche junge Frau in dem voluminösen Sessel ihres Vaters thronte, den Reifrock darüber drapiert, und den Blick ihrer klugen grünen Augen über die Bücher und Akten an den Wänden des Kontors schweifen ließ. Ob es stimmte, dass Simon Greenborough es gewagt hatte, um Nora Reeds Hand anzuhalten?
»Ja, bedauerlicherweise«, antwortete Wilson schließlich. »Nachdem er eine Woche nicht zur Arbeit erschienen war. Das geht natürlich auch nicht. Wir …«
»Wilson?« Die Stimme des Bürovorstehers klang schneidend. »Was machen Sie da? Ich sehe wohl nicht recht, noch einer, der mit der Tochter seines Brotherrn tändelt? Ich habe Sie gebeten, nach Hause zu gehen, Miss Reed. Und Sie, Wilson, geben Sie Bobby endlich die Ermächtigungsschreiben, die er zu den Docks bringen soll!«
Der Mann blitzte sowohl Nora als auch seinen Untergebenen an. Er schien sich sehr sicher an seinem Arbeitsplatz zu fühlen, nicht jeder hätte gewagt, die Tochter seines Arbeitgebers so zu behandeln.
Wilson seufzte, als Simpson sich umwandte, die Tür des Kontors jedoch offen ließ. Ein klares Zeichen, dass er ein Auge auf ihn hielt. »Ja, dann, Miss Reed …«
Nora wollte schon aufstehen. Aber dann kam ihr plötzlich ein Geistesblitz. »Mr. Wilson, diese Kündigung an meinen … äh … an Mr. Greenborough. Wurde ihm die schriftlich zugestellt?«
Wilson nickte. »Selbstverständlich, Miss Reed, das muss ja alles seine Ordnung haben. Er hat auch den Rest von seinem Gehalt bekommen, Mr. Reed ist da sehr korrekt. Er bietet ihm sogar ein Zeugnis an. Ich habe den Brief selbst geschrieben … Aber ich … ich erinnere mich gar nicht mehr an die Adresse.«
Wilson errötete bei der Lüge, aber Nora achtete nicht auf ihn. Thomas Reed hatte einen Brief diktiert, und Bobby, der kleine Botenjunge, hatte ihn befördert! Nora wusste nun, an wen sie sich wenden konnte!
Rasch und förmlich verabschiedete sie sich von Wilson, der erleichtert wirkte. Er atmete zweifellos auf, als sie das Kontor verließ, ohne weitere Fragen nach der Kündigung zu stellen.
In der Hauseinfahrt, außer Sichtweite des Kutschers, wartete sie auf Bobby, einen mageren, rothaarigen Dreizehnjährigen, der für Reeds Kontor Briefe beförderte. Der Junge grinste sie furchtlos an, als sie ihn ansprach, die Sommersprossen tanzten in seinem noch kindlichen Gesicht.
»Kann ich was für Sie tun, Miss Reed?«
Nora nickte und nannte ihr Anliegen. »Du musst doch noch wissen, wo du die Kündigung hingetragen hast.«
»War der wirklich Ihr Liebster, Miss Reed?«, fragte Bobby frech, statt ihre Frage zu beantworten. »Das sagen sie im Kontor, aber der arme Schlucker und so ’ne Prinzessin wie Sie, Miss Reed …«
Nora bemühte sich, empört zu tun. »Das geht dich gar nichts an, Bobby!«, beschied sie den Jungen. »Und im Übrigen könntest du dich ein bisschen mäßigen! Mr. Greenborough ist
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