Die Insel Der Tausend Quellen
ist …«
Simon sprach das Wort nicht aus, aber auch Nora musste die Anzeichen der Schwindsucht kennen. Selbst in den besten Kreisen starben die Menschen daran. Und hier, in den engen Straßen des Eastend, war die Seuche allgegenwärtig.
Nora schüttelte den Kopf. »Das heilt aus, wenn wir erst mal im Süden sind!«, erklärte sie bestimmt. »Die Kälte hier, die Nässe – dafür sind wir nicht geschaffen. Aber du musst wieder Mut fassen, Liebster! Warte ab, wenn hier ein Feuer brennt und wir Kerzen haben … Kerzen, genau, wir brauchen Licht … Wir machen es uns gemütlich, und ich erzähle dir von Cooper Island. Lady Wentworth hat es mir genau geschildert. Und ich habe dir auch noch gar nicht alles von dem Buch erzählt, das sie mir geliehen hatte. Über Barbados … den Dschungel und den Strand … Aber es gibt auch schon eine richtige Stadt dort. Sie heißt …«
Simon gab sich vorerst geschlagen – allerdings hatte er auch gar keine Zeit mehr, um weiter zu protestieren. Fast gleichzeitig erschien jetzt schließlich wieder Joan – diesmal mit einer Schüssel warmem Wasser – und etwas regte sich auf dem Dach.
»Der Kaminfeger ist da«, meldete das Mädchen. »Und die Mutter sucht Bettzeug zusammen. Sie schimpft, weil sie wohl ihr eigenes nehmen muss, und sie will zwei Penny, wenn sie’s frisch beziehen soll. Und ich hab gedacht … vielleicht möchte der Herr sich waschen …«
Noras Herz flog dem Mädchen zu. Joan war wirklich ein gutes Kind und unzweifelhaft um Simon besorgt. Ob sie verliebt in ihn war? Aber dafür erschien sie Nora zu jung.
Andererseits wurde man im Eastend wohl früh erwachsen. Nora erschrak, als sich plötzlich etwas Kleines, Rußschwarzes durch den Kaminschacht abseilte und auf die kalte Feuerstelle plumpste. Sie dachte zunächst an einen Kobold – oder den Weihnachtsmann, für den sie am Heiligen Abend Strümpfe an den Kamin hängte. Aber dann entpuppte sich das winzige Ding als vielleicht fünfjähriger Junge, der den Kehrbesen schwang.
»Und mach’s richtig, Tom, dass ich nicht wieder Klagen höre!«
Eine Männerstimme erklang von oben. Anscheinend der Kaminfeger, der den Kleinen am Seil herunterließ, um seine Arbeit zu tun. Der Schacht war eng, ein Erwachsener, oder auch nur ein größeres Kind, hätte nicht hindurchgepasst.
Nora blickte entsetzt auf das Kind, das mit allen Anzeichen der Anstrengung den Ruß von den Wänden des Kamins klopfte. Der Junge wirkte unterernährt und hustete. Nora wollte etwas zu ihm sagen, aber ihr fiel nichts ein, womit sie ihn hätte trösten können. Vielleicht ein Penny? Aber das war, wenn man Bobby glauben konnte, ja schon der Lohn für die ganze Arbeit. Und der Meister würde es dem Kleinen sicher wegnehmen. Zu Hause hätte sie Zuckerzeug gehabt … aber hier …
Bevor sie noch irgendetwas tun konnte, hatte der Kaminfeger seinen kleinen Lehrling wieder heraufgezogen. Er fuhr fort, im Schacht hängend die Wände zu fegen.
»Gleich fertig!«, rief der Mann schließlich von oben. »Wenn wir weg sind, könnt ihr Feuer machen.«
Dazu fehlte es natürlich noch an Holz, aber Nora hoffte auch hier auf Bobby. Und vorerst musste sie Simon helfen, sich zu waschen. Der bestand allerdings darauf, dass sie sich dabei abwandte. Trotz seiner Schwäche richtete er sich auf, und Nora tat das Herz weh, als sie ihn wieder husten hörte. Anschließend wirkte er auch weniger erfrischt als zu Tode erschöpft.
Nora suchte derweil nach einem Nachthemd. Sie errötete dabei ein wenig, sie hatte nicht einmal ihren Vater je im Nachtgewand gesehen. Aber jetzt war keine Zeit für Scham – und wenn sie Simon heiratete, würden sie schließlich ohnehin das Bett miteinander teilen. Nora hatte verhältnismäßig genaue Vorstellungen darüber, was dabei auf sie zukam. Schließlich pflegten die Mädchen der besseren Gesellschaft pausenlos darüber zu tuscheln. Faire l’amour hatte am Hof des Sonnenkönigs als eine Art Gesellschaftsspiel gegolten, und nun schwappte die Sache langsam nach England über. Der Landadel erregte sich zwar eher über die Schamlosigkeit der Franzosen, aber die jungen Leute erzählten sich errötend von den Ausschreitungen in dem Land auf der anderen Seite des Kanals. Nora fürchtete sich jedenfalls nicht vor ihrer Hochzeitsnacht mit Simon, bisher hatte sie es stets genossen, sich im Sommer im Park neben ihm auszustrecken. Sie dachte noch immer voller Sehnsucht an ihre gemeinsame Bootsfahrt. Damals hatte sie sogar gewagt, unter sein Hemd zu
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