Die Insel Der Tausend Quellen
schließlich nicht einfach Mr. Greenborough, sondern ein Viscount. Ein Peer, ein Lord …«
Bobby verzog das Gesicht. »Aber sein Schloss bricht bald über ihm zusammen«, höhnte der Junge. »Im Ernst, Miss Nora, das ist eine Absteige, wo ich den Brief hingebracht hab, da wohn ja ich noch hochherrschaftlich gegen … Und das Viertel da hinter dem Tower … die Schlachtereien …«
»Das werde ich dann ja gleich selbst sehen«, stoppte Nora seinen Redefluss. »Würdest du mich bitte hinführen?«
»Sie?« Bobby runzelte die Stirn. »Nee, Miss, das geht nicht, das ist kein Ort für eine Lady. Ihr Vater würde … der würde mich glatt …«
»Mein Vater muss das nicht erfahren«, sagte Nora und zog eine Münze aus der Tasche. Bobby musterte den Penny begehrlich.
»Das erzählt ihm doch schon Ihr Kutscher«, bemerkte er dann scharfsinnig und wies mit einer Schulter hinüber zu Peppers.
Nora biss sich auf die Lippen. Der Junge hatte Recht. Peppers durfte auch nichts mitkriegen.
»Können wir nicht irgendwie an der Kutsche vorbei, ohne dass er uns sieht?«, erkundigte sie sich.
Der Junge kicherte. Es amüsierte ihn offensichtlich, dass diese hochherrschaftliche Miss ein Abenteuer mit ihm plante.
»Nee. Wie soll denn das gehen, der guckt doch schon die ganze Zeit her. Wenn Sie einen Schritt vortreten, sieht der Sie. Aber warten Sie mal!«
Bobby zwinkerte ihr zu, trabte auf die Kutsche zu und wechselte ein paar Worte mit Peppers. Noch bevor er wieder da war, hatte der die Pferde antreten lassen. Die Kutsche fuhr ab.
»Ich hab ihm gesagt, dass Sie im Kontor auf Ihren Vater warten«, erklärte Bobby und zog Nora am Rock aus der Einfahrt. »Aber jetzt kommen Sie auch, sonst erwischt Sie hier noch wer – und mich auch. Außerdem ist das ein Umweg, wir müssen schnell machen, damit uns Simpson nicht draufkommt. Der zählt jeden Schritt, den ich zu machen hab zwischen dem Kontor und den Docks, und wehe, ich bin ein paar Herzschläge zu spät …«
Nora hoffte, dass Peppers die Ausrede wirklich geglaubt hatte – eigentlich hatte ihr Vater schließlich nicht geplant, vor der Abreise noch einmal ins Kontor zurückzukehren. Aber andererseits konnte er seine Pläne geändert haben, und zu viel zu hinterfragen stand dem Kutscher nicht zu. Insofern versuchte sie, sich keine allzu großen Sorgen zu machen, als sie Bobby jetzt entlang des Themse-Ufers folgte, zuerst vorbei an ordentlichen, neu gebauten oder altehrwürdigen Kontor-und Gildehäusern, dann in die Gassen der Armenviertel. Nora vergaß ihre Befürchtungen, der Kutscher könnte ihr unauffällig folgen. Tatsächlich waren die Straßen so eng, so schmutzig und überfüllt, dass die Pferde kaum durchgekommen wären. Man sah auch bald gar keine Kutschen oder Droschken mehr, allenfalls alte, zweirädrige Karren mit klapperigen Pferden oder Maultieren davor.
Nora wurde zusehends mulmig zumute. Simon hatte ihr erzählt, dass er sehr preiswert im Eastend wohnte, aber diese Hütten und engen, billig gebauten Häuser, diese unratübersäten Straßen, in denen schmutzige, barfüßige Kinder spielten, während dunkle Gestalten hinter den Ecken zu lauern schienen … Nora dankte dem Himmel für Bobby, der sich hier mit größter Selbstverständlichkeit bewegte. Anscheinend stammte er selbst aus kaum besseren Verhältnissen. Auf jeden Fall flitzte er so rasch durch die Straßen, dass Nora ihm kaum folgen konnte. Sie fühlte sich auch unsicher und deplatziert in ihrem schlichten, aber selbstverständlich aus bestem Stoff gefertigten Nachmittagskleid mit Reifrock und Mantille. Gut, dass sie ihr Haar nicht gepudert hatte. Niemand in diesem elendigen Viertel puderte anscheinend sein Haar. Die durch die Straßen hastenden oder am Rand des Weges irgendwelche Waren verhökernden Frauen wirkten genauso ungepflegt wie ihre Kinder.
»Hat … hat Simon, also Mr. Greenborough, irgendetwas gesagt, weshalb er nicht mehr ins Kontor kam?«, versuchte Nora ein Gespräch mit ihrem Führer zu beginnen. Bobby war schließlich der Einzige, der nach dem verhängnisvollen Dienstagabend noch mit Simon gesprochen haben konnte.
Bobby schüttelte den Kopf. »Der hat gar nicht viel gesagt«, antwortete er dann. »Der lag im Bett und war krank, Miss. Und nicht nur ’n bisschen, wenn Sie mich fragen. Dazu sah er aus, als hätt er seit drei Tagen nichts zwischen die Zähne gekriegt. Trotzdem wollt er mir noch ’n Penny geben, für den Botendienst … obwohl’s ja weiß Gott keine guten Nachrichten
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