Die Insel der verlorenen Kinder
paar echte Irre! Ich finde, du solltest herkommen. Wir grillen ein paar Steaks und setzen uns gemütlich in den Whirlpool.»
«Ja, komm doch vorbei, Ronnie», sagte Peter. «Iss mit uns zu Abend.» Rhonda hörte Bewegung, das Quietschen von Couchfedern. Peter setzte sich wohl aufrecht, damit er auflegen konnte, sobald sie zugestimmt hatte. Peter schien es immer ziemlich eilig zu haben, ein Telefonat mit ihr zu beenden, wenn Tack zu Hause war.
«Okay, ich komme. Ich bin ungefähr in einer halben Stunde da.» Sie war nicht wirklich scharf auf diese Einladung, wollte an diesem Abend aber auch nicht alleine sein. Ihre Laune war auf dem Tiefpunkt, sie ärgerte sich erneut darüber, dass sie sich dem Hasen nicht in den Weg gestellt hatte.
Rhonda beendete das Gespräch und verstaute das Handy wieder in ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz. Dann blickte sie durch die Windschutzscheibe auf die vielen Polizisten, die um Trudys Wagen herumstanden. Seine Türen waren weit geöffnet.
Käfer auch,
ging es Rhonda durch den Kopf. In den Nachrichten war berichtet worden, dass Ella Starkee Käfer gegessen hatte. Rhonda fragte sich, was der Hase Ernie zu essen geben würde – und was das Mädchen für sein Überleben wohl alles würde machen müssen.
Rhonda fuhr zu ihrer Wohnung, um sich umzuziehen und ihren Badeanzug einzupacken. Sie wohnte zentrumsnah, in der Dachgeschosswohnung eines historischen Stadthauses. Das Haus war in drei Wohneinheiten aufgeteilt worden: Im Erdgeschoss wohnte der Besitzer mit seiner Frau, im ersten Stock deren unverheiratete Tochter mit ihren zwei Kindern, und im ausgebauten Dachstuhl war Rhondas Wohnung. Durch die Dachgiebel hatten viele Wände sehr interessante Schrägen. Zu ihrer Wohnung kam sie über eine Wendeltreppe, die sich an der Rückseite des Hauses befand.
Oben angekommen, schloss Rhonda die Wohnungstür auf, ging sofort ins Schlafzimmer und zog sich um. Sie war froh, endlich aus dem unbequemen Hosenanzug herauszukommen. Aus dem Gaubenfenster neben ihrem Bett hatte sie einen tollen Blick auf die Südspitze des Nickel Lake. Sie hatte den Vorhang beiseitegezogen und stand einen Moment lang da, betrachtete die Schwimmer und Sonnenanbeter am öffentlichen Badestrand und fragte sich, ob die wohl schon etwas von der Entführung gehört hatten. Sie verspürte den lächerlichen Drang, das Fenster aufzureißen und wie ein mittelalterlicher Stadtschreier allen Müttern die Warnung zuzurufen, auf ihre Kinder aufzupassen und sich vor Hasen zu hüten.
Doch sie widerstand diesem Impuls und wandte sich von den fröhlichen und offensichtlich ahnungslosen Badenden mit ihren bunten Strandtüchern, Sonnenschirmen und Kühlboxen ab, um ihren blinkenden Anrufbeantworter abzuhören. Sie hatte nur eine einzige Nachricht: Ein Mitarbeiter des Lake-Champlain-Forschungsteams wollte wissen, ob es beim Termin des Vorstellungsgesprächs vielleichtzu einem Missverständnis gekommen sei, und bot ihr einen neuen Termin an, falls sie noch immer an der Stelle interessiert sei. Rhonda löschte die Nachricht. Auf dem Weg nach draußen blieb sie im Flur stehen und warf einen Blick in den Spiegel. Hinter ihr hingen zwei ihrer Zeichnungen von sezierten Tieren: der Tintenfisch und der Hase. Rhonda hatte ihre Biologiekurse sehr gerne besucht und vor allem das Sezieren geliebt. Das Zeichnen der Begleitdiagramme bereitete ihr Freude – das Beschriften der einzelnen Teile und die Lageskizzen der Organe –, und später nahm sie sich die Zeichnungen noch einmal mit einem Buntstift vor und malte das Herz rot, die Milz violett und die Leber grün aus. Sie hatte ein Schafsauge seziert, einen Schweinefötus, eine Taube, eine Katze, einen Tintenfisch, viele Frösche und einen Hasen. Die Zeichnungen hatten ihr so gut gefallen, dass sie sie gerahmt an den Wänden ihrer Wohnung aufgehängt hatte – dorthin, wo andere Frauen vielleicht Familienfotos, Landkarten oder Poster mit Babys in Sonnenblumenkostümen aufgehängt hätten.
Ihr Blick verweilte einen Moment lang auf dem Hasen hinter ihr im Spiegel, unter dessen weggeklappter Haut und aufgeschnittener Brustmuskulatur die Organe freigelegt waren. Sie blinzelte, schnappte sich den Schlüsselbund vom Tisch unter dem Spiegel und ging nach draußen.
Tack zog sich immer ganz nackt aus, wenn sie in den Whirlpool stieg, und Rhonda hasste das. Sie hasste es, dass die andere einen so schlanken, straffen Körper hatte und sich ihrer Nacktheit kein bisschen schämte. Tack streifte ihre
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