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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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Kleider so lässig ab, wie man eine Sonnenbrille absetzte.Peter trug eine blaue Badehose. Rhonda hatte einen schwarzen Badeanzug an, fühlte sich darin aber trotzdem noch zu nackt und zog deshalb darüber ein T-Shirt an.
    Der Whirlpool war Marke Eigenbau, wie beinahe alles in Peters und Tacks vom Stromnetz unabhängigem Giebelhaus. Es war auf einem fünf Hektar großen, hinten an den Fluss grenzenden Grundstück erbaut worden, zu dem ein einsamer, drei Meilen langer Feldweg führte. Der Weg wurde nicht von der Stadt instand gehalten, und so mussten Peter und Tack ihn jedes Frühjahr selbst aufreißen und planieren. Rhonda, die keinen Geländewagen fuhr, hätte sich niemals auf einen Besuch im Winter oder während einer Regenperiode eingelassen.
    Tack und Peter hatten das Haus vor drei Jahren gemeinsam errichtet und dabei so viel Sorgfalt auf die Holzarbeiten verwendet, dass es eher wie ein Kunstwerk als wie ein Zuhause wirkte. Sie heizten mit Holz, erzeugten Strom mit Solarzellen und hatten für Wolkentage mehrere Akkus und einen Zusatzgenerator, der mit Gas lief.
    An den Wochenenden hatten Rhonda und ihr Vater beim Hausbau geholfen. Rhondas Beitrag (abgesehen davon, dass sie mit Suzy gespielt hatte, damit die keinen Unsinn anstellte) hatte in dem Messen des Bauholzes und dem Markieren der Zuschnittstellen bestanden. Rhonda hatte Angst vor allen Werkzeugen, da diese Geräte schreckliche Vorstellungen in ihr weckten: Phantasiebilder, in denen sie einfach so die Hand in die Tischkreissäge streckte oder mit der Handkreissäge abrutschte und sich ins Bein schnitt. Sie stellte sich dann vor, wie leicht man verblutete oder sich fürs ganze Leben verstümmelte, wie dies ihrem Vater geschehen war. «Es istvon einem Moment zum anderen passiert», pflegte ihr Vater immer zu sagen, wenn er die Geschichte erzählte.
    Rhonda kannte die Geschichte vom Unfall ihres Vaters auswendig und hatte im Laufe der Jahre nicht nur seine Version gehört, sondern auch die von Aggie, Daniel und Dave Lancaster. Dave war damals der Chef der Sägemühle gewesen, und außerdem war er Aggies Onkel. Clem und Dave hatten während ihrer Highschool-Zeit nebenbei in der Sägemühle gejobbt und dort alle möglichen Arbeiten erledigt, vom Einspannen der Holzstämme bis zum Ausliefern der Bretter und Balken. Nach dem Schulabschluss machten sie einen Ganztagsjob daraus. Im selben Sommer war Aggie Lancaster, die auch gerade ihren Schulabschluss gemacht hatte, aus Maryland gekommen, um im Sommer bei ihrem Onkel zu jobben. Am Ende dieses Sommers hatte Clem seine beiden Finger verloren.
    Wenn Dave die Geschichte erzählte, was normalerweise erst nach ein paar Bier bei einer Familiengrillfete der Fall war, schwor er Stein und Bein, es sei kein Unfall gewesen.
    «Daniel ist nicht gegen Clem gefallen», beharrte er. «Er hat ihn, verdammt nochmal, absichtlich geschubst.»
    Daniel behauptete, er könne sich an den ganzen Unfall nicht erinnern: In dem einen Moment habe er noch hinter Clem gestanden und ihm geholfen, die Hemlocktanne durch die Säge zu führen, und im nächsten sei er von Clems Blut übergossen auf dem Betonboden aufgewacht.
    Clem schüttelte immer den Kopf, wenn er Daves Version hörte. «Daniel hatte einen Anfall», erklärte er dann. «Er ist zu Boden gestürzt und dabei gegen mich gefallen.»
    Über den Rest der Geschichte waren sich wieder alleeinig. Clem riss die Hand weg und spritzte dabei alles mit Blut voll, doch das Erste, was er danach tat, war, sich rasch niederzuknien und sich um Daniel zu kümmern. Dave stellte die Säge ab und brüllte nach Aggie, die sich auf der anderen Seite des Grundstücks im Büro befand.
    Als Aggie kam, sah sie den auf dem Boden liegenden Daniel – mit Schaum vor dem Mund und wild um sich schlagend   –, während Clem sich über ihn beugte. Sie sah Daniels blutdurchtränktes Shirt, begriff aber nicht, woher das Blut stammte.
    «Pass auf seinen Kopf auf», schrie Clem, der schon Hunderte solcher Anfälle erlebt hatte. Daher wusste er, dass er den Freund zwar nicht am Boden festhalten durfte, aber alles tun musste, damit Daniel sich nicht verletzte, während er um sich schlug. Daniels zuckender Kopf lag in der Nähe eines der stählernen Tischbeine der Kreissäge, und Aggie bückte sich und barg ihn sanft in den Händen. Sie hatte noch nie einen Anfall miterlebt und auch noch nie so viel Blut gesehen. Erst da, als sie die Hände in Daniels schweißnassem Haar vergraben hatte, um seinen Kopf zu schützen, fiel

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