Die Insel der verlorenen Kinder
Strecke als sonst genommen», erklärte Peter. «Drüben beim Sawyer’s Pond.»
«Ich wette, die Kriebelmücken waren eine Plage», sagte Rhonda.
«So schlimm war es nicht», meinte Peter und schaute auf seine Arme. Rhonda entdeckte keinen einzigen Stich.
«Das Florucci-Mädchen ist also eine Freundin von Suzy, hattest du gesagt?», fragte Rhonda.
«Ja», antwortete Tack. «Sie gehen in dieselbe Klasse. Im März war Suzy zu Ernies Geburtstagsfeier eingeladen. Sie wohnt mit ihrer Mom in einem Trailer an der Meckleson Hill Road. Eine ziemlich miese Gegend. Aber Ernie ist ein liebes Kind. Sie war ein paarmal zum Spielen hier, nicht wahr, Schatz?»
Peter nickte.
«Er hätte sich ebenso gut Suzy schnappen können», sagte Rhonda.
Tack schauderte und blickte weg.
«Wer weiß, was von dem armen kleinen Mädchen jetzt noch übrig ist; dabei hätte ich rechtzeitig eingreifen können», fuhr Rhonda betrübt fort. «Ich hätte mir wenigstens das verdammte Kennzeichen merken können.»
«Du gehst zu streng mit dir ins Gericht, Ronnie», erklärte Peter, griff im Wasser nach ihrer Hand und drückte sie aufmunternd. «Passiert ist passiert. Man muss so etwas auch einfach mal sein lassen können, wie es ist.»
Sein lassen, wie es ist? So wie ich bei Ernie alles hab laufen lassen, wie es lief?
, dachte Rhonda bei sich. Sie blickte in Peters wässrig blaue Augen und gab ihren Fingern das Signal, seinen Händedruck zu erwidern.
So wie du es mit Daniel und Lizzy sein lässt, wie es ist?
s?
12. Mai 1993
Lizzy und Rhonda hüpften auf dem Weg zur Bühne eilig durch den Wald. Fast genau vor einem Monat waren sie hier dem Hasen nachgejagt, doch jetzt war der Schnee geschmolzen, und die zwischen Fichten, Hemlocktannen und Weymouths-Kiefern eingestreuten Ahornbäume schlugen aus. Am Vortag hatte es geregnet, doch nun kam die Sonne hervor, und der Wald roch nach Erde.
Lizzy sang
Achy Breaky Heart
, und zwar mit absichtlich falschem Text, weshalb Rhonda fast einen Lachkrampf kriegte.
Und wenn du’s meinem Herzen sagst,
ach, dem armen Herzchen,
dann dreht es mir den Magen um,
und ich kotz diesem Mann …
Lizzy wirbelte einmal herum, stemmte die Hände in die Hüften und kickte mit dem rechten Bein hoch in die Luft. Es sah mehr nach Karate als nach
Rockette
aus.
Sie kamen gerade von Lizzys Haus, wo diese ihre Schulkleidung gegen ein Trikot, Leggins und türkisgrüne Beinwärmer eingetauscht und Rhonda die stählerne Reckstange gezeigt hatte, die ihr Vater in den Türrahmen des Wandschranks geschraubt hatte.
«Wofür soll denn das sein?», hatte Rhonda gefragt.
Lizzy war hochgesprungen, hatte die Reckstange gepackt und sich darangehängt.
«So werde ich länger», hatte sie erklärt. «Wenn ich täglich eine Viertelstunde daran hänge, werde ich größer. Garantiert.»
Rhonda dachte, dass dabei wohl vor allem Lizzys Arme länger werden dürften, sodass sie dann vielleicht eher wie ein Affe als wie eine
Rockette
aussehen würde, war aber klug genug, das für sich zu behalten.
«Und jetzt schau mal», hatte Lizzy gesagt, sich erst mit der einen und dann mit der anderen Kniekehle an die Stange gehängt und dann die Hände losgelassen, sodass sie kopfüber im Türrahmen baumelte. Lizzy schloss die Augen und hing einfach da, zweifellos darauf konzentriert, sich in die Länge zu recken, während ihr Gesicht allmählich puterrot anlief.
«Eile mit Weile, Rakete.»
Rhonda drehte sich um und sah Daniel in der Tür von Lizzys Zimmer stehen.
«Du willst doch nicht, dass dir noch eine Ader platzt», fuhr er fort.
«Es heißt Ro-cket-te, Daddy», verbesserte ihn Lizzy, zog sich am Reck hoch, sprang herunter und rückte ihre Beinwärmer zurecht. «Los, komm, Ronnie, Peter wartet auf uns.»
Peter saß im Schneidersitz mitten auf der Bühne und rauchte seine selbstgeschnitzte Maiskolbenpfeife. Die Luft duftete süß vom Kirscharomatabak, den er im Gemischtwarenladen geklaut hatte. Peter schien im Licht der Nachmittagssonne zu glühen, die über die Wipfel der Nadelbäume hinweg auf die Lichtung schien und die Bühneleuchten ließ. Er trug eine verblichene braune Kordhose und ein grünes Lederhemd. Auf dem Kopf saß eine Krone aus ineinandergeschlungenen Weinranken, in die noch verschiedene Baumblätter geflochten waren. Rhonda kam er wie ein Märchenprinz vor – ein Anblick, der vor einem erscheint, wenn man sich im Wald verirrt hat, und der verschwindet, sobald man einmal zwinkert. Rhonda zwinkerte also,
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