Die Insel der verlorenen Kinder
eine Stimme aus dem Inneren des Wohnwagens.
«Laura Lee! Hier ist Rhonda Farr!»
«Ronnie? Verdammt nochmal. Komm rein.»
Laura Lee empfing sie in der Küche, die weiß und türkisblau eingerichtet war und so aussah, als wäre hier seit den sechziger Jahren weder irgendetwas verändert noch jemals geputzt worden.
Laura Lee hatte monströs aufgetürmte rote Locken, sie musste dafür stundenlang mit Lockenwicklern hantierthaben. Die Lockenpracht stand so steif und mächtig vom Kopf ab, dass Rhonda sich fragte, wie die arme Frau eigentlich ihr Gleichgewicht wahrte. Sie hatte silbernen und blauen Lidschatten aufgetragen – farblich beinahe zur Kücheneinrichtung passend –, und mit Rouge hatte sie sich kreisrunde rote Bäckchen gemalt. Die Lippen leuchteten in einem grellen Pink. Sie trug eine knallgelbe Gymnastikhose mit Steg unter der Ferse und ein T-Shirt , das auf der Brust mit einem Papageienmotiv bestickt war. In der einen Hand hielt sie ein Longdrink-Glas mit einem rosaroten Getränk und einer Orangenscheibe, in der anderen eine schmale Zigarette.
«Ich dachte, ihr wärt von der Presse.» Laura Lee kam schwankend auf sie zu und blieb dann mit einem solchen Ruck stehen, dass sie taumelte. «Vorhin waren Reporter hier. Die rufen mich schon den ganzen Tag an. Zum Schluss hab ich den gottverdammten Telefonhörer neben den Apparat gelegt. Stellst du mir deinen umwerfenden neuen Freund eigentlich nicht vor?» Laura Lee strich Warren über die Wange. «Gott, der sieht ja zum Anbeißen aus!»
«Laura Lee, das hier ist Warren. Er hat heute mit mir ehrenamtlich in der Zentrale gearbeitet.»
«Ehrenamtlich? Zentrale? Sammelt ihr Geld für einen wohltätigen Zweck? Aids? Oder für diese Landstreicher, die heute, wie sagt man noch, Obdachlose heißen? Ha! Oder vielleicht für Waisenkinder? Egal, ich geb auch einen Dollar dazu. Warum nicht?» Sie drehte sich um, nahm ihren Geldbeutel vom Küchentisch und fingerte am Verschluss herum.
«Nein, nein, um so was geht es nicht», erklärte Rhonda.«Pat hat im Mini Mart eine Zentrale für die Suche nach Ernestine Florucci eingerichtet. Wir haben Anrufe entgegengenommen. Und Flugblätter verteilt. So was alles.»
Laura Lee sah sie finster an. «Schön für dich, Schätzchen. Schön. Für. Dich. Seid ihr deswegen gekommen? Wollt ihr jetzt auch wissen, ob ich das Täubchen unterm Bett versteckt habe? Na, spart euch die Mühe. Die Polizei war schon hier.»
«Nein! Nein, Laura Lee. Darum geht es überhaupt nicht. Ich hatte nur gehofft, du könntest uns etwas über dein Auto sagen.»
«Über mein Auto? Alle fragen mich ständig nach meinem verdammten Auto. Die Polizei hat es mitgenommen, sie hat den Wagen
abschleppen lassen.
Sie behaupten, er wäre bei der Entführung benutzt worden. Sagten, sie hätten irgend so ’nen Beweis gefunden. Ha! Da weiß ich gar nichts drüber. Ich fahr einmal pro Woche damit, vielleicht auch zweimal. Seit letztem Donnerstag bin ich nicht mehr mit der verdammten Karre unterwegs gewesen! Das Auto hat seitdem nur hier in der Zufahrt gestanden. Die Polizei hat mich den ganzen Vormittag auf der Polizeiwache gehabt und meine komplette Lebensgeschichte aufgeschrieben. Was für ’ne beschissene Art, seine Autobiographie zu diktieren, hm?»
«Dir ist also gar nicht aufgefallen, dass der Wagen weg war?», fragte Rhonda.
«Ach, Schätzchen, ich hab hier die Filme mit meinem Lebenswerk geschaut. Und alle Ventilatoren liefen auf Hochtouren. Ich hatte so ein paar Gläschen Sangria getrunken, verdammt nochmal – die hab ich mir ja wohl verdient, oder? Ich hätte nicht mal was gemerkt, wenn der Teufelpersönlich aus dem Hades hochgestiegen wär, um meinen Wagen zu mopsen. Durchs Wohnzimmerfenster kann ich die Zufahrt gar nicht sehen, und sowieso hatte ich die Jalousien heruntergelassen, damit es nicht so heiß wird. Ich hab, verdammt nochmal, keinen Ton gehört. Um zehn nach drei hab ich so einen Anruf gekriegt. So ’ne Lady von einer Kreditkartengesellschaft wollte mir eine Versicherung zum Sondertarif anbieten, weil ich
so eine gute Kundin
bin oder irgend so ’n Scheiß. Ha! Die Polizei hat die Lady gefunden, und das ist für die der Beweis, dass ich zu Hause war. Als ob ich jemand wär, der sich wie so ’n gottverdammter Osterhase verkleidet und ein kleines Mädchen klaut! Das ist doch absurd! Wissen die denn gar nicht, wer ich bin?»
Rhonda schenkte Laura Lee ein mattes Lächeln und schaute dann kurz nach Warren. Der wirkte vollkommen begeistert. Er
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