Die Insel der verlorenen Kinder
hatte ihn damit vertröstet, dass sie erst einmal über alles nachdenken müsse. Jetzt, am nächsten Vormittag, hüteten sie wieder bei Pat das Telefon. Warren trank eine große Tasse heiße Schokolade und Rhonda einen Becher extraschwarzen Kaffee. Warren hatte sich um den Spitzbart herum rasiert, und sein Haar war noch feucht von der Dusche.
«Da gibt es nicht viel zu erzählen. Daniel ist Peters Vater.»
«Und könnte man ihm zutrauen, dass er ein kleines Mädchen entführt?» Er wartete mit schiefgelegtem Kopf auf ihre Antwort.
«Nein, das ist ausgeschlossen.»
«Warum?»
«Er ist vor fast dreizehn Jahren verschwunden.»
«Verschwunden?»
«Genau. Am Abend war er noch zu Hause, und alle haben ihn gesehen, und am nächsten Morgen war er weg. Wir dachten alle, er würde früher oder später wiederauftauchen. Dass er vielleicht auf eine Sauftour gegangen oder kurzzeitig abgetaucht wäre, um sich vor irgendwelchen Spielschulden zu drücken, so was in der Art. Aber keiner hat je wieder was von ihm gehört.»
«Unheimlich.»
«Seine Tochter Lizzy war meine beste Freundin. Sie war Peters Schwester. Und drei Jahre später, als wir in der neunten Klasse waren, ist sie ebenfalls verschwunden. Lizzy brach eines Morgens zur Schule auf, nur mit ihrer Schultasche ausgerüstet, und wurde nie wieder gesehen.»
«Moment mal», warf Warren ein. «Peters Schwester ist verschwunden?»
Rhonda nickte. «Ihr Dad ist zurückgekommen und hat sie geholt.»
«Wenn es wirklich Daniel war, wieso hat er dann nicht auch Peter mitgenommen?», fragte Warren.
«Das weiß keiner», antwortete Rhonda. Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und trank den letzten, lauwarmen Schluck. «Alle haben sich das gefragt, aber keiner hat eine Ahnung. Die Polizei hat die beiden gesucht, aber nicht gefunden. Lizzy war eines von diesen Kindern, deren Bilder man auf Milchkartons gedruckt oder an Supermarktwänden geklebt sieht. Kinder, die von einem Elternteil entführt wurden. Danach hat ihre Mom so ziemlich den Verstand verloren.»
Rhonda dachte an Aggies steten Niedergang: wie sie immer mehr getrunken und sich zunehmend sonderbar verhalten hatte. Wie sie mit ihrem Haar herumgemacht, sich eine Strähne nach der anderen vorgenommen und stundenlang daran gezupft hatte, bis sie wie ein räudiger Hund aussah. Sie wurde paranoid und beschuldigte Clem und Justine, genau zu wissen, wo Daniel sei, es aber zu verheimlichen. Sie trank bis zum Umfallen, raste mit dem Auto in Clems und Justines Haus und biss einem Polizisten das Ohrläppchen ab, der dem Fall einer Frau nachgehen sollte, die nurmit ihrer Unterwäsche bekleidet in einem Supermarkt von Price Chopper Avocados klauen wollte.
Aggie wurde schließlich in eine Klinik eingewiesen. Dort blieb sie ein halbes Jahr und zog dann zu ihrer Schwester nach Maryland. Als das Haus der Schwester abbrannte, sorgte diese dafür, dass Aggie in einer Art Wohnheim für psychisch Kranke untergebracht wurde.
«Und du bist dir sicher, dass Lizzy wirklich von ihrem Dad entführt wurde?» Warren beugte sich vor. Sein Atem roch süß nach Kakao, und einen winzigen Moment lang fragte Rhonda sich, wie es wohl wäre, ihn zu küssen.
Rhonda nickte.
«Ganz sicher. Zwei Wochen nach ihrem Verschwinden erhielten wir eine Postkarte. Das war die erste von mehreren weiteren, und in allen erzählte sie von ihren Abenteuern mit Daniel und sagte, dass es ihr gutgehe. Die letzte kam aus San Francisco. Damals war ich in der zehnten Klasse. Auf der Karte stand einfach nur, sie nehme jetzt Gesangsstunden, was ich wirklich komisch fand.» Rhonda schloss die Augen und versuchte vergeblich, sich an Lizzys Stimme zu erinnern. Stattdessen fiel ihr die Gewohnheit ihrer Freundin ein, zum Scherz absichtlich einen falschen Text zu singen.
«Komisch?»
«Lizzy hat nach dem Verschwinden ihres Dads nicht mehr geredet. Mit niemandem mehr. Drei Jahre ohne ein einziges Wort. Und dann schreibt sie, dass sie Gesangsstunden nimmt.» Rhonda lachte matt und zerpflückte den Rand des leeren Pappbechers in ihrer Hand.
Warren nickte. «Klingt ziemlich verrückt.»
«Ja», stimmte Rhonda zu. «Wir waren ein Herz und eine Seele. Aber in dem Sommer, als Daniel wegging, zerfiel alles irgendwie. Danach war es nie mehr wie früher.»
«Das muss wirklich hart für dich gewesen sein. Dass deine beste Freundin einfach so verschwunden ist.»
Und ob. Das waren die Worte, die sie in all den Jahren so gerne einmal von Peter gehört hätte. Dass er einfach nur ein einziges
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