Die Insel der verlorenen Kinder
davon. Rhonda blieb noch eine Weile stehen, sah sich blinzelnd um und versuchte sich vorzustellen, sie wäre ein kleines Mädchen, das gerade mit seinem U-Boot auf der Haseninsel gelandet ist.
Die Grabsteine waren alt, die jüngsten stammten aus den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Vorn waren sie mit Trauerweiden, Engeln und totenkopfähnlichen Gesichtern mit Flügeln verziert. Einige der Steine waren vollkommen verwittert und ihre Inschriften schon nicht mehr lesbar. Einige standen schief oder waren auf die Rückseite gekippt – ein Opfer der Zeit oder vielleicht auch gelangweilter Teenager, die zu viel warmes Bier getrunken hatten. Rhonda hatte den Martin-Friedhof seit ihrer Kindheit nicht mehr besucht. Wie damals suchte sie jetzt als Erstes ihren Lieblingsstein in der äußersten nordwestlichen Ecke, den kleinen Grabstein mit der Aufschrift HATTIE, MIT SIEBEN JAHREN AM 12. DEZEMBER 1896 GESTORBEN. Sie durchquerte den Friedhof und konnte den kleinen Stein schon sehen, als ihr etwas anderes ins Auge fiel: Etwas funkelte ganz schwach im ungemähten Gras. Silberfolie aus einer Zigarettenpackung? Oder eine Aludose?
Nein. Sie erreichte die Stelle, und als sie zu Boden blickte, konnte sie kaum glauben, was sie da sah. Es war ein Schlüsselbund mit einem Flaschenöffner als Anhänger und einer Hasenpfote, die kahle Stellen aufwies – weil Peter, so stellte es sich Rhonda vor, genau dort gerieben hatte, wenn er Glück brauchte.
Mit heftig pochendem Herzen hob sie den Schlüsselbund auf und steckte ihn in ihre Handtasche.
«He, da hinten ist ein Pfad», rief Warren. Er joggte zwischen den alten Grabsteinen hindurch auf Rhonda zu. Diese machte ihre Handtasche zu und presste sie an sich. Sie würde Warren nichts von ihrem Fund erzählen. Sonst würde er nur darauf bestehen, dass sie zu Crowley gingen. Aber war das der richtige Weg? Wäre der Schlüsselbund nicht ein Beweisstück? Wie weit wollte sie gehen, um Peter zu beschützen?
Sie erinnerte sich, wie er sie vor langer Zeit an ebenderselben Stelle geküsst hatte.
Du weißt doch, dass du mein Mädel bist?
«Ja», sagte sie zu Warren. «Auf diesem Pfad bin ich damals immer hierhergekommen.»
«Wohin führt er?» Warren stand jetzt unmittelbar vor ihr. Seine Stirn war schweißbedeckt, und seine Augen leuchteten wie die eines aufgeregten kleinen Jungen.
«Ein Stück weit durch den Wald. Er führt am Haus von Peters Mom, an unserer Bühne und am Haus meiner Eltern vorbei. Wenn man eine Abzweigung nimmt, kommt man zum See. So sind wir früher immer zu unserer Schwimmstelle beim Loon’s Cove gegangen.»
«Jemand muss den Pfad immer noch benutzen», sagte Warren. «Er ist ausgetreten.»
«Wahrscheinlich Kinder.» Sie kniete jetzt vor dem kleinen Grabstein, die Handtasche an sich gepresst.
Oder Hasen.
«Traurig», meinte Warren und zeigte nach unten. «Erst sieben. Was sie wohl hatte?»
«Da kommt so ziemlich alles in Frage», hörte Rhondasich antworten. «Damals ist man schon an einer Kleinigkeit gestorben – gerade die Kinder.»
«Friedhöfe sind faszinierend», bemerkte Warren. «Jeder Grabstein birgt sein eigenes kleines Geheimnis, nicht wahr?»
«Als Kind bin ich immer hierhergekommen», gestand Rhonda. «Dann saß ich hier, bei Hattie, und hab versucht, wieder Ordnung in meine Welt zu bringen.»
Aber das war damals, als ich noch Wendy war und Peter ein Junge in einem Laubkostüm, der versprochen hat, niemals erwachsen zu werden – und schon gar nicht der Verdächtige in einem Fall von Kindesentführung.
«Ich sehe es direkt vor mir», meinte Warren. «Die kleine Philosophin.» Wieder dieses Lächeln. Er trat vor, und Rhonda wich nicht zurück, sondern streckte selbst die Hand aus, und er ergriff sie.
«Ich wünschte, ich hätte dich als kleines Mädchen kennengelernt», meinte Warren und drückte ihre Hand kaum merklich.
Rhonda lachte. Das war vielleicht das Netteste, was ihr jemals ein Mann gesagt hatte.
«Nein. Ich war ein total komisches Kind. Und ich hatte diese grauenhafte Zahnspange, mit der ich wie eine betrunkene Ratte klang.»
Warren lachte. «Genau die Sorte Mädchen gefiel mir», meinte er.
Sie verließen den Friedhof Hand in Hand. Und ein paar kurze und köstliche Momente lang vergaß Rhonda Peter ganz und gar. Sie vergaß den Schlüsselbund in ihrer Handtasche, der schreckliche Möglichkeiten andeutete.Eine kurze Weile spürte sie nur Warrens tröstliche Gegenwart an ihrer Seite, und zum ersten Mal seit Monaten
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