Die Insel der verlorenen Kinder
sich vor dem Grabstein ins Gras, dorthin, wo Hattie ihrer Meinung nach liegen musste, und heulte los. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, und ihre Tränen tropften zu Boden.
Ihr Vater liebte Aggie noch immer. Er war heimlich mit ihr verheiratet. Vielleicht, ja vielleicht waren Rhondas Eltern ja gar nicht wirklich miteinander verheiratet. Es gab keine Hochzeitsfotos. Keinerlei Beweis. Wenn ihre Eltern aber nicht richtig miteinander verheiratet waren – was waren sie dann? Und was, dachte Rhonda, bedeutete das für sie selbst?
Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter. War ihr Vater ihr gefolgt, um ihr alles zu erklären? Hatte er sich irgendeine Lüge ausgedacht, damit sie sich besser fühlte, obgleich sie gerade die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen hatte?
«Geh weg», sagte sie, ohne aufzublicken.
«Was ist denn los?» Das war nicht die Stimme ihres Vaters. Es war Peters Stimme.
Rhonda blieb weiter mit dem Gesicht nach unten liegen und überlegte, was sie sagen sollte.
«Du bist losgerannt, als wäre ein Mörder hinter dir her», meinte Peter.
Rhonda setzte sich auf, wagte aber immer noch nicht, Peter anzusehen. Wenn sie ihn ansähe, würde er in ihrem Gesicht lesen und irgendwie begreifen, was sie gerade eben gesehen hatte.
«Ronnie, rede mit mir», sagte er.
Aber was sollte sie ihm sagen?
Ich hab gerade gesehen, wie deine Mom mit meinem Dad rumgemacht hat?
Schon bei dem Gedanken daran bekam sie ein schlechtes Gewissen, als wäre das irgendwie ihre Schuld.
Rhonda räusperte sich. «Wie sie wohl gestorben ist?»
«Was? Wer?»
«Hattie», antwortete Rhonda und strich mit dem Finger über die Namensinschrift auf dem Grabstein. «Sie war erst sieben.»
«Ich weiß es nicht», meinte Peter. «Da kommt wohl so ziemlich alles in Frage. Damals sind die Leute schon gestorben, wenn sie sich nur einen
Zeh
angestoßen hatten.»
«Es ist einfach nur so traurig», sagte Rhonda und heulte wieder los. Peter drehte sie zu sich um, nahm sie in den Arm und streichelte ihr über das Haar.
«Sch! Alles in Ordnung. Weißt du, was ich glaube?», fragte er. «Ich glaube, dass ich dir diesen Rumpunsch nicht hätte geben dürfen. Der hat dich ganz aus dem Häuschen gebracht.»
«Wahrscheinlich», sagte Rhonda.
«Komm her», sagte er und hob ihr Kinn an. Und dann küsste er sie. Ein sanfter, trockener Kuss auf die Stirn. Und dann noch einmal, genauso sanft, auf die Lippen.
«Du weißt doch, dass du mein Mädel bist?», fragte er ganz ruhig.
Sie nickte. Sie hatte nicht gewusst, dass sie es wusste – aber sie wusste es. Rhonda wurde mit einem Mal ruhig. Sie streckte die Hand aus und berührte die Blätterkrone, die er noch immer trug. Und dann sah sie es: Lizzy hockte hintereinem Grabstein und beobachtete sie. Rhonda, die plötzlich ein schlechtes Gewissen hatte, als wäre sie bei irgendetwas ertappt worden, zog sich von Peter zurück und schlug vor, wieder zur Geburtstagsfeier zurückzugehen.
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14. und 15. Juni 2006
Der schmiedeeiserne Zaun um den Martin-Friedhof war rostig und windschief. Das Eingangstor war offen, links und rechts von zwei knorrigen Hortensienbüschen gesäumt, an denen noch immer die vertrockneten braunen Blütendolden des Vorjahrs hingen. Am Rand des Friedhofs wuchs wilder Flieder. Rhonda lenkte ihren Wagen auf den kleinen Parkplatz vor dem Tor und betrachtete das Bild in Warrens Hand. Die
Haseninsel.
«Hier ist es. Ganz sicher. Schau dir doch nur die ordentlichen Reihen von Grabsteinen an. Und wie der schwarze Zaun um das ganze Gelände herumläuft. Hier kann man wunderbar ein Kind herbringen. Abgelegen und doch nicht weit von der Schule. Hier kommt nie einer her. Aber selbst wenn – man kann nicht durch die Büsche gucken.» Rhonda sprang aus dem Wagen und lief durchs Tor, Warren im Schlepptau, der das Bild wie eine Schatzkarte festhielt.
Die Luft duftete berauschend nach Flieder. Grillen zirpten. Das Gras war so hoch, dass man es eigentlich hätte mähen müssen, und von rotem Klee durchwuchert. Bienen taumelten trunken von Blume zu Blume und erfüllten den Friedhof mit ihrem leisen, tiefen Gesumm.
«Verdammt», sagte Warren. «Du hast recht. Schau doch nur auf die Berge im Hintergrund. Und dort die Kiefernreihe. Hier ist es, ganz eindeutig! Und jetzt?»
«Ich denke, wir schauen uns einfach mal um.»
«Wonach?»
«Nach einem Hinweis. Nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Etwas, womit wir zu Crowley gehen können.» Ernies Bild in der Hand, marschierte Warren über den Friedhof
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