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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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Jahren gezeichnet hatte. Dann blickte sie zu ihrem Vater auf und fragte sich, was wohl für sie selbst das winzige Ding sein mochte, das sie schützte und vor Unheil bewahrte.
    Am 21.   Mai 2001 wurden die sterblichen Überreste des Kommandanten der
Hunley,
Lieutenant George Dixon, vorn im U-Boot aufgefunden. Auch er war an seinem Platz geblieben und hatte die Stellung bis zum Schluss gehalten.
    Am 25.   Mai 2001 stieß man auf Dixons legendäre Goldmünze. Die Delle von dem Gewehrschuss war unübersehbar. Die eine Seite der Münze war abgeschmirgelt und dannmit einer Inschrift versehen worden, eingeritzt ins Metall:
Shiloh, 6.   April 1862.   Mein Lebensretter
, stand dort in Lieutenant Dixons Handschrift.
    An dem Tag, an dem die Münze gefunden wurde, standen Clem die Tränen in den Augen. Denn es war der Tag, an dem er erfuhr, dass die alte Geschichte stimmte. In der Nacht seines Ertrinkens hatte Dixon das Goldstück mit der Aufschrift
Mein Lebensretter
am Leib getragen. Rhonda musste denken, dass man das Unvermeidliche mit etwas Glück und gutem Timing eine Weile aufhalten konnte, aber wenn die Zeit am Ende abgelaufen war, dann war es eben so. Das U-Boot sank zu guter Letzt immer. Der Hase schnappte einen letztlich doch. Was auch geschah, man ging unter. Lebensretter hin oder her.
     
    Heute war Justines Trainingsanzug pastellblau.
    Rhonda hatte das glatte braune Haar ihrer Mutter und deren rundliches Äußeres geerbt. Wenn Rhonda ihre Mutter ansah, dachte sie:
So werde ich in dreißig Jahren aussehen
, und irgendwie fand sie das tröstlich. Auf eine ungepflegte Hausfrauenart war Justine mit Mitte fünfzig hübsch. Sie trug das Haar schulterlang, hatte sich jedoch einen Pagenkopf schneiden lassen. Es war gefärbt und das Grau nicht zu sehen. Die Falten in ihrem Gesicht hatten sich im Laufe der Jahre tiefer eingegraben, dazugekommen waren jedoch keine: Wenn Justine lächelte, sah man Krähenfüße um die Augen herum und Falten um den Mund, wenn sie nicht lächelte. Sie war zehn Jahre älter als Clem, wirkte aber jünger.
    «Ich brauche ein Wort mit neun Buchstaben für ‹betruegen›»,sagte Justine, ohne von dem Kreuzworträtsel auf ihrem Schoß aufzublicken. Sie steckte das Ende ihres Bleistifts in den Mund und knabberte an dem Radiergummi herum.
    «‹Irrefuehren›», meinte Rhonda.
    «Das hat elf Buchstaben.»
    «‹Taeuschen›», sagte Clem, ohne von seinem eigenen Kreuzworträtsel aufzublicken.
    «Das ist es», rief Justine aus. «Das ist richtig. Danke, Darling.» Sie schrieb es eilig hin.
    «Ich schau mal nach den Fotoalben», erklärte Rhonda. Sie hatte ihren Eltern gesagt, dass sie an einem neuen Bild arbeitete und als Vorlage ein paar alte Fotos suchte.
    «Die dürften zum größten Teil in unserem Schlafzimmerschrank liegen», sagte Justine.
    «Ich hab sie vielleicht umgeräumt», bemerkte Clem.
    «Ich schau mal selbst nach», bot Rhonda an.
    Sie ging an der geschlossenen Tür ihres alten Kinderzimmers vorbei, das inzwischen nur noch als Rumpelkammer und ganz selten auch als Gästezimmer Verwendung fand. In Clems und Justines Schlafzimmer zog sie die hölzerne Lamellentür des großen Wandschranks auf. Die linke Seite gehörte ihrem Vater, die rechte ihrer Mutter. Ehen waren voll solcher festgefahrener Arrangements, dachte Rhonda und verspürte plötzlich im Hinterkopf jenen leichten Schmerz, der sie ab und zu heimsuchte: Es war eine Art von Kopfweh, eine Mahnung, dass sie vielleicht für immer allein bleiben würde. Kein Schicksal, das sie sich ausgesucht hatte, sondern eher ein Schicksal, das anscheinend für sie ausgewählt worden war. Dann dachte sie an Warren – undwie sie auf dem Friedhof seine Hand gehalten hatte. Durfte sie zu hoffen wagen, dass es diesmal zu irgendetwas führen würde? Und wollte sie das eigentlich wirklich?
    Sie fand den wackeligen Stapel mit Fotoalben auf dem Regal über den Bürgerkriegskostümen ihres Vaters, die dort in den Plastiksäcken hingen, in denen sie aus der Reinigung gekommen waren.
    «Ich hab sie gefunden!», schrie sie über die Schulter zurück und merkte erst da, dass Clem unmittelbar hinter ihr stand. Er half ihr, die Alben herunterzuholen. Die meisten hatten einen Umschlag aus rissigem, fleckigem Lederimitat, auf dem in verschnörkelten Goldlettern «Familienfotos» oder «Erinnerungen» stand.
    «Was suchst du denn?», fragte Clem, der ihr half, die Alben durch den Flur in die Küche zu tragen, wo das Licht besser war.
    «Vor allem Fotos von

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