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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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bewegte sich in der Zeit immer weiter vorwärts und stieß schließlich auf die Bilder, die ihre Mutter am Abend der Abschlussvorstellung von
Peter Pan
gemacht hatte. Da war ein Schnappschuss, wie sie alle in ihren Kostümen Hand in Hand auf der Bühne standen und sich verneigten. Oder von Daniel, wie er Lizzy in ihrem Captain-Hook-Kostüm hoch oben auf den Schultern trug. Man sah Daniel, wie er sich mit Peter nach dem Stück einen Schwertkampf lieferte. Daniel und Clem, wie sie zusammenstanden und Bier tranken. Daniel, wie er mit Laura Lee Clark tanzte, die ein aufreizendes, paillettenbesetztes Kleid trug. Rhonda suchte das Foto nach irgendeinem Anzeichen in Daniels Gesicht ab, dass er genug von allem hatte und gehen würde. Aber ihr fiel nur auf, dass der Schnurrbart abrasiert war. An jenem Abend war Daniel glatt rasiert, vielleicht ein Zeichen, dass er zu einer Veränderung bereit war.
    Er hat ein anderes Leben gewählt,
dachte Rhonda, die mit dem Finger über sein rasiertes Gesicht strich. Und dann hatte Lizzy, Rhondas geheime Zwillingsschwester – alias Captain Hook   –, das Reden eingestellt und sich später ihrem Vater angeschlossen. Sie war einfach eines Morgens zur Schule aufgebrochen und nie zurückgekehrt.
    Solche Entscheidungen fallen eben manchmal,
dachte Rhonda und versuchte sich einzureden, dass eine solch einfache Erklärung für derart schwere Verluste ausreichen könnte.
    «Meine Güte.» Rhonda zeigte auf das Foto von Daniel und Laura Lee. «Schau doch nur, wie sie sich herausgeputzt hat! Als ginge sie zu einer Oscar-Verleihung oder so.» Dann fiel ihr Blick auf ein anderes Detail. «Schau mal, Dad – er hat ihr die Hand auf den Hintern gelegt!»
    Clem nickte. «Ich glaube, dass Daniels Hand mit Laura Lees Hinterteil durchaus vertraut war.»
    «Hatten sie ein Verhältnis?»
    Wieder nickte Clem. «Ein richtiges Geheimnis war es nicht. Und Aggie war sogar der Meinung, Laura Lee hätte bei Daniels Verschwinden irgendwie die Finger im Spiel gehabt.»
    «Wie meinst du das?»
    «Also, Laura Lee könnte ihn zum Beispiel unter Druck gesetzt haben. Vielleicht hat sie ihm gesagt, sie sei schwanger. Aggie hatte natürlich   … alle möglichen Theorien.»
    «Mein Gott, ich hatte nicht die geringste Ahnung», sagte Rhonda.
    Sie blätterte wieder rückwärts und stieß auf ein Foto, an das sie sich gar nicht erinnerte. Lizzy und sie selbst trugen die gleichen babyblauen Windjacken. Arm in Arm standensie vor Lizzys und Peters Haus. Sie beide mussten damals neun oder zehn gewesen sein. Es war Herbst – hinter ihnen lag ein frisch zusammengeharkter Blätterhaufen. Sie trugen den gleichen Haarschnitt, hatten die gleiche Gesichtsform und waren sogar wie Zwillinge gekleidet. Zwillinge in zerknitterten Sachen. Unbeholfene, vogelscheuchenartige Kinder mit großen, gequälten Augen. Sie klammerten sich aneinander, als hinge ihr Leben davon ab. Beide lächelten, doch ihr Lächeln wirkte gezwungen, als hätte man ihnen gesagt:
Schau doch nicht so finster, lächele schön für die Kamera und sag «Cheese».
Wer wohl das Foto geschossen hatte? Aggie oder Daniel? Ihr eigenes Lächeln gab ein metallisches Blitzen frei, das musste ihre Zahnspange sein.
    Sie strich mit den Fingern über das Gesicht ihrer Freundin.
    «Kann ich das hier haben?», fragte sie ihren Vater.
    «Nimm das ganze Album mit, Ronnie. Deine Mutter und ich, wir schauen die Fotos nicht mehr an. Ich glaube, ich habe sogar noch das alte Video von
Peter Pan
, falls du das haben möchtest.»
    Rhonda nickte. Sie hatte ganz vergessen, dass es eine Videoaufnahme gab. Clem schlurfte ins Schlafzimmer zurück und kam nach ein paar Minuten mit der Videokassette in den Händen zurück.
    Er wirkte erleichtert, dass sie alles mitnahm; als müsste sie nur die Beweise fortschaffen, damit er sich künftig alles nach seinem eigenen Gusto zurechtlegen konnte. Als könnte er dann sogar Daniel und Lizzy von der Landkarte ihres gemeinsamen Lebens löschen.
    Einfach so. War das möglich?

s?
    20.   Juni 1993
    Laura Lee half Greta bei ihrem Krokodilkostüm, und als das Mädchen es endlich den anderen zeigte, waren die ziemlich beeindruckt. Selbst Peter gefiel es, und der machte sonst nicht leicht Komplimente.
    «Du bist wirklich ein tolles Krokodil», räumte er mit breitem Lächeln ein.
    Das Kostüm war aus mehreren Kartons gefertigt. Der größte Karton war der Rumpf, und darunter steckte die ganze Greta. Ein langer, schmaler Karton bildete den Kopf, und der Schwanz bestand

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