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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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Lizzy.»
    Clem lächelte matt. Sein ohnehin aschfahles Gesicht verlor den letzten Hauch von Farbe. Ihr Vater sah schrecklich alt aus, dachte Rhonda.
    Er war noch immer groß und schlank, und das Haar hatte jetzt einen distinguiert wirkenden graumelierten Ton. Aber sein Atem ging pfeifend, und er hustete oft. Raucherhusten. Das keuchende Bellen eines Mannes, der um zwanzig Jahre älter wirkte, als er tatsächlich war.
    Im Laufe der Jahre hatten sowohl Justine als auch Rhonda Clem bedrängt, das Rauchen aufzugeben. Er hatte es auch ein paarmal halbherzig versucht, aber eigentlich nur, damit Frau und Tochter Ruhe gaben. Er rauchte dann immer heimlich in der Garage oder bei der Arbeit – dachtesich Vorwände aus, um nach draußen zu kommen und dort eine Zigarette zu rauchen. Er brachte zweimal täglich den Müll raus oder ging in den Laden, um Milch zu holen, obwohl noch zwei Liter im Kühlschrank standen. Niemand fiel darauf herein. Er machte das einfach nur, weil man das eben so machte.
    «Warum denkst du plötzlich über Lizzy nach?», fragte er.
    «Ich habe von ihr geträumt. Und da hat mir ein Freund vorgeschlagen, ich könnte doch ein Bild von dem Traum malen», erklärte sie.
    Clem nickte düster.
    Rhonda beschloss, es rasch hinter sich zu bringen, die Alben gleich wieder zuzuklappen und in den Schrank zu stapeln, die Vergangenheit ruhen und sie auf dem Regal Staub ansammeln zu lassen. Rhonda trug die Alben zum Küchentisch, wo ihr Vater sich neben sie setzte.
    «Hast du dir eigentlich einen neuen Termin für das Vorstellungsgespräch an der Universität geben lassen?», fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Hast du neue Bewerbungen losgeschickt?»
    «Ähm, nein», räumte sie ein. «Diese Ernie-Sache hat mich in der letzten Zeit vollkommen beansprucht.»
    «Aber bezahlt wirst du dafür nicht», rief er ihr in Erinnerung. Da hatte er natürlich recht. Ihre wenigen Ersparnisse schmolzen rasch dahin, und bald würde sie anfangen müssen, ihren Studienkredit abzustottern. Aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Sie schob den Gedanken beiseite und klappte das erste Fotoalbum auf.
    Darin war Rhonda der Star   – Rhonda als Säugling mit zerknautschtem Gesichtchen, Rhonda auf Clems Arm, Rhonda grinsend in ihrem Hochstühlchen, Traubengelee um den ganzen Mund verschmiert. Gegen Ende des Albums begann Rhonda, auf zwei Beinen herumzutapsen – Rhonda, wie sie einen Löwenzahn pflückt, oder Rhonda, wie sie die Arme nach einem verschwommenen Clem ausstreckt. Und dann tauchten allmählich auch Daniel, Aggie, Peter und Lizzy auf den Bildern auf. Es gab Fotos, wie sie gemeinsam den amerikanischen Unabhängigkeitstag begingen, und Fotos von Peter, wie er an diesem Tag mit einem Partyhütchen auf dem Kopf vier Kerzen auf einem Kuchen ausblies. An Rhondas erstem und zweitem Geburtstag waren alle versammelt, und es gab zwei Kuchen, einen für sie und einen für Lizzy. Aus der Zeit vor Rhondas Geburt fand sie keine Fotos im Album ihrer Eltern. Weder von deren schlichter Hochzeit, die ein Friedensrichter zelebriert hatte, noch von den Flitterwochen im Pennsylvania Dutch Country. Es war, als hätte das eigentliche Leben von Rhondas Eltern erst mit der Geburt ihrer kleinen Tochter begonnen.
    In späteren Alben sah man Fotos von Lizzy, Rhonda und Daniel in einem Teetassen-Karussell von Disneyland. Die beiden Mädchen trugen Mickymaus-Ohren mit einem Stirnband, auf dem vorn in roter Stickschrift ihr Name stand, und sahen in der großen Teetasse neben Daniel unglaublich winzig aus. Dann gab es Bilder, auf denen alle drei Kinder in der Wild West World Davey Crockett gegenüberstanden – Peter, der etwa elf Jahre alt schien, trug eine dazu passende Waschbärenmütze. Wie eine Großfamilie hatten die Farrs und die Shales beinahe jeden Urlaubgemeinsam verbracht: Man sah ein Foto, wie sich alle außer Justine um einen geradezu monströs großen Thanksgiving-Truthahn versammelt hatten, und ein anderes, wie sie am Weihnachtsmorgen zwischen Bergen von Geschenkpapier, Schleifen und Bändern saßen. Justine war die Familienfotografin gewesen und daher auf den Bildern kaum je zu sehen. Clem hasste Fotos – weder knipste er gern, noch ließ er sich gern fotografieren   –, und so gab es viele Schnappschüsse, auf denen er halb abgewandt zu sehen war: ein verschwommenes Profil und der abwehrend erhobene Arm eines unscharfen Gespenstes von Mann.
     
    Rhonda klappte ein weiteres Album auf, blätterte durch die folienbedeckten Seiten,

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