Die Insel der verlorenen Kinder
doch jeder», sagte Clem. «Irgendwas Kleines, so ein winziges Ding, das einen schützt und vor Unheil bewahrt, ob man das nun weiß oder nicht.»
Rhonda saß da, trank Kaffee, hörte ihm mit halbem Ohr zu und sah auf die Bilder der
Hunley
hinunter, die sie vor Jahren, in einem ganz anderen Leben, schien es, für ihn gezeichnet hatte. Das Hauptinteresse Rhondas, das sie veranlasst hatte, den weiten Weg zu ihren Eltern zu fahren, galt der Funktionsweise des U-Bootes : Wie waren die Kurbeln mit dem Antrieb verbunden, und wie wurden die Wassertanks geflutet und geleert, damit das Boot sank oder aufstieg? Sie wollte diese Details in ihre neue Zeichnung einarbeiten. Um sicherzugehen, dass der Hase auch die richtigen Schalthebel zur Verfügung hatte.
Es tat ihr gut, sich auf etwas anderes als Ernies Entführung konzentrieren zu können. Tack hatte recht gehabt: Es stand Rhonda nicht zu, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken wie eine dicke, ungeschickte Version von Nancy Drew. Sie war eine Zeugin und mehr nicht – sie war einfach im falschen Moment am falschen Ort gewesen. Oder vielleicht auch im richtigen Moment am richtigen Ort – egal, was Trudy sagte, ohne Rhonda wüsste man gar nicht, dass der Hase Ernie entführt hatte.
Rhonda beschloss daher, Warrens Ratschlag zu beherzigen und sich an diesem Tag die Zeit zu nehmen, eine Szene aus ihrem Traum zu zeichnen. Wenigstens schnüffelte sie dann nur in ihrem eigenen Unbewussten herum. Sie war ziemlich aufgeregt und voller Vorfreude bei dem Gedanken, endlich wieder zu zeichnen. Ihre ganze Kindheit über war sie vom Zeichnen fasziniert gewesen, aber als sie älter wurde, hatte sie davon abgelassen und ihr Talent nur noch genutzt, wenn sie, wie zum Beispiel in ihrem Biologiekurs, dazu aufgefordert wurde. Ihr Studium und ihr Praktikumals Laborassistentin (eine Bezeichnung, die eigentlich kaum mehr als ein Euphemismus für «Putzkraft» war) hatte sie so ernst genommen, dass ihr kaum Zeit für etwas anderes geblieben war. Jetzt fühlte es sich wie ein enormer Luxus an, einfach nur um des Zeichnens willen zu zeichnen und einen ganzen Tag damit zuzubringen, geradezu – dekadent.
Als Rhonda die
Hunley
-Zeichnung betrachtete, die sie damals für ihren Vater angefertigt hatte, merkte sie, dass sie eines sorgfältig vermieden hatte, nämlich jede Art von Emotion. Die Gesichter der Soldaten waren ausdruckslos – wie die Gesichter von Schaufensterpuppen oder Robotern. Die Menschen sahen fast wie Maschinen aus – in ihren Mienen wies nichts auf Gefahr, Angst oder den bevorstehenden Tod hin.
Aber wie mussten sie gewesen sein, diese letzten Minuten auf der
Hunley
, gefangen in einem Stahlsarg, in dem der Sauerstoff ausging und der Schweißgeruch immer schwerer wurde? Rhonda betrachtete die Gesichter der Soldaten und suchte irgendeine Andeutung dessen, was sie erwartete – wenigstens eine winzige Vorahnung von Leid.
Wie Rhonda aus den täglichen Berichten ihres Vaters wusste, war die
Hunley
am 4. Mai 1995 endlich in der Bucht von Charleston Harbor gefunden worden. Tauchgänge zeigten, dass sie anscheinend unbeschädigt war. Nach fünf Jahren der Planungen, Vorbereitungen und kontroverser Diskussionen wurde das U-Boot am 8. August 2000 geborgen – mit Hilfe eines Krans und eines Spezialgerüsts. Um es in seinem gegenwärtigen Zustand zu konservieren, wurde es in einem Kaltwasserbecken gelagert. Im Laufe der nächstenMonate öffnete man das U-Boot , und der darin abgelagerte Sand und Schlick wurden sorgfältig durchsiebt. Clem sah jeden Tag im Internet nach, manchmal sogar mehrmals täglich – er war wirklich wie besessen und wollte nicht das winzigste Detail verpassen. Jedes Mal wenn etwas Neues gefunden wurde, erzählte er Rhonda davon: ein Portemonnaie, eine Feldflasche, ein Nähkästchen, Knöpfe oder eine Tabakspfeife. Was Clem und Rhonda aber wirklich interessierte und was sie täglich mit angehaltenem Atem erwarteten, waren Leichenfunde. Sie rechneten damit, dass man früher oder später auf die Überreste der Besatzung stoßen würde. Und so war es dann auch.
Zunächst fand man nur drei Rippen. Dann Schenkelknochen. Einen Schädel. Nach und nach wurden alle Gebeine der Besatzung aufgefunden. Ihre Lage ließ darauf schließen, dass die Soldaten bis zum Schluss an ihren Plätzen ausgeharrt hatten. Noch im Sinken hatten sie die Kurbeln bedient und gepumpt.
Bis in den Tod hinein,
dachte nun Rhonda, während sie das Bild betrachtete, das sie mit zehn
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