Die Insel der verlorenen Kinder
Abschlussvorstellung. Rhonda sprach ihren Text wie in einem Traum, aus dem sie niemals aufwachen wollte.
«Wisst ihr», sagte Rhonda – sie spielte jetzt Wendy als ältere Frau, die in ihrem Schaukelstuhl beim Fenster saß und in die Nacht hinausspähte –, «manchmal frage ich mich, ob ich jemals wirklich geflogen bin.»
In den letzten Wochen hatte sie gespürt, dass eine Veränderung in der Luft lag. Sie fühlte es jedes Mal, wenn Peter etwas sagte, wenn er Bühnenanweisungen rief oder jemandem seinen Text vorsprach. Sie hörte es jedes Mal in Peters Stimme, wenn er als Peter Pan vergnügt durch den Wald krähte: Die Stimme war mal hoch, mal tief und von kieksenden Tönen unterbrochen. Sie spürte, dass die Veränderung wie ein gefährliches Ungeheuer auf sie wartete, das hinter der Falltür nur darauf lauerte, alles im letzten Akt zu vernichten.
In den letzten Tagen vor der ersten Aufführung hatten sie ihre Rollen den ganzen Tag lang beibehalten, einander auch so angesprochen und ihr altes Ich so leicht aus den Augen verloren, wie Peter Pan seinen Schatten verlor.
Aber ein Schatten, das hatte Rhonda Peter Pan auf der Bühne gezeigt, lässt sich wieder annähen. Ob jeder von ihnen wohl nach dem heutigen Abend auch sein früheres Ich wieder so mühelos zurückbekommen würde? Ob es wirklich so einfach sein könnte?
«Und ich frage mich», sagte Rhonda in ihrer Rolle als Wendy, «ob ich mich jetzt noch an den Weg erinnern würde.»
In der letzten Szene der von Peter verfassten Version des Stücks versuchte Wendy als alte Frau – Rhonda trug eine graue Perücke und hatte Runzeln auf ihr dick gepudertes Gesicht gemalt – sich zu erinnern, wo Peter Pan eigentlich gelebt hatte und wie es dort gewesen war. Nachdem die alte Frau sehr lange überlegt hatte, ob Peter eigentlich gesungen oder gekräht hatte, ob er ihnen wirklich das Fliegen beigebracht hatte und ob das alles überhaupt wirklich passiert war, überkam sie blitzartig eine Erinnerung – ihr fiel ein Satz ein, und das war der letzte Satz des Stücks. Sie erhob sich langsam von ihrem Stuhl, humpelte mit einem Stock zum Fenster, zog die Vorhänge zurück und sagte laut: «Zweiter Stern zur Rechten und dann geradeaus bis zur Morgendämmerung.»
Als Rhonda in jener Nacht auf der Bühne stand, hatte sie eine plötzliche Vision von sich selbst als einer erwachsenen Frau gehabt – wie sie eines Nachts in ferner Zukunft einmal leise diese Zeile sagen und dabei in den Sternenhimmel sehen würde, als könnte sie damit noch einmal alles zurückholen: Peter und jenen Sommer. Lizzy, ihre ehemalige «Zwillingsschwester». Und sich selbst, wie sie in ihrer Rolle als Wendy Angst hatte, eines Tages wie die Gespielte zu werden. Das wollte sie niemals, denn Wendy vergaß nach und nach alles, und Rhonda wollte nicht vergessen, nicht das kleinste bisschen. Sie wollte nicht vergessen, wie Peter in seinem grünen Kostüm aussah, für das sie Blätter aus Filz ausgeschnitten und zusammengenäht hatten. Siewollte nicht vergessen, wie er den ganzen Sommer nach grünen Dingen gerochen hatte, nach Bäumen und Wurzeln und allem, was wächst. Sie wollte Lizzy nicht vergessen, die wirklich zu einem Captain Hook geworden war, wie sie mit dem aus ihrem Ärmel ragenden Kleiderbügelhaken durch den Wald rannte, den Piratenhut schief auf dem Kopf. Oder wie Lizzy am Ende dem Krokodil vorgeworfen worden war, das die Schreiende komplett verschlang.
Sie wollte das zähnefletschende Krokodil nicht vergessen, das von Tack Clark gespielt wurde, die einmal jedermanns Erzfeindin gewesen war, aber dann plötzlich nicht mehr. Tack Clark, die alle verabscheut hatten – Peter am allermeisten –, bis irgendetwas sich verändert hatte, nach Art jener großen Veränderungen in der Kindheit und Jugend, an die man sich als Erwachsener später nie richtig erinnern kann. Allenfalls kann man den Vorhang zurückziehen und denken, dass man den Weg dorthin zurück noch halb und halb in Erinnerung hat.
Zweiter Stern zur Rechten und dann geradeaus bis zur Morgendämmerung.
Und dort am Horizont erkannte sie durchs Fenster das Lächeln des Krokodils, und sie hörte Peters Krähen und seinen unerbittlichen Entschluss –
Ich werde niemals erwachsen! –,
den er mit einer Stimme rief, in der die Veränderung schon anbrach.
«Zweiter Stern zur Rechten und dann geradeaus bis zur Morgendämmerung», sagte Rhonda dort auf der Bühne in ihrem Wendy-Nachthemd, und gleichzeitig hörte sie, wie sie selbst
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