Die Insel der verlorenen Kinder
einzigen Baum zu stoßen.
Der Pfad führte abwärts. Ihr Nachthemd flatterte im Wind, sodass sie sich mehr als Gespenst denn als ein richtiges Mädchen fühlte.
Vor sich hörte sie Geschrei. Hinter sich den lauten Beat Van Morrisons.
Sie eilte auf die Lichtung und traf dort im Mondlicht die drei anderen auf der Bühne an. Peter hatte einen Hammer in der Hand. Tack hatte die Arme um Lizzy geschlungen, die schluchzend neben der Falltür zusammengebrochen war.
Es kam Rhonda so vor, als probten sie eine Szene aus einem Stück, das sie nicht kannte.
«Was ist los?», rief sie.
«Du kommst genau im rechten Moment», sagte Peter.
«Wozu?», fragte Rhonda.
«Wir reißen das ganze Ding ab», erklärte er. «Und jetzt komm hoch und hilf mir.»
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17. Juni 2006
Als Rhonda vor dem Mini Mart hielt, war es schon zwanzig Uhr fünfundvierzig. Die Benzinpreisanzeige war ausgeschaltet, und Laden und Werkstatt waren dunkel, doch Pats Wagen stand auf dem Parkplatz.
Rhonda ging zur Ladentür und stellte fest, dass sie unverschlossen war. Langsam zog Rhonda sie auf und hörte das leise, elektronische Läuten, das bei ihrem Eintritt an der Kasse ausgelöst wurde.
Eilig schaute sie sich im Mini Mart um. Weder Pat noch Warren war da.
«Hallo?», rief sie zögernd mit dünner Stimme.
Sie ging wieder zur Ladentür und spähte über den Parkplatz zur Straße. Da war keiner. Nichts.
Wie konnte sie nur übersehen, dass Pat ebenfalls eine mögliche Verdächtige war? Pat kannte Trudy und Ernie. Aber Sinn ergab es noch immer nicht. Pat hatte so aufrichtig nach Ernie gesucht. Sie hatte das kleine Mädchen unbedingt finden wollen.
Hatten Pat und Peter gemeinsame Sache gemacht? Oder hatte sie, Rhonda, sich bei Peter geirrt?
Sie war bisher noch nie allein im Mini Mart gewesen. Das leise Summen der Kühlschränke und der Klimaanlage war ihr nie aufgefallen. Überall klickte und surrte etwas. Unruhig drehte sie sich nach jedem neuen Geräusch um.
Jetzt war sie sich sicher, ein Atmen zu hören.
«Pat?»
Rhonda ging um die Regale mit süßen Snacks und Chipsherum hinter die Ladenkasse, wo sie das Licht anschaltete, das den Laden strahlend hell erleuchtete. Sie sah auf Reihen von Zigaretten und Hinweisschilder, die den Verkauf von Tabak und Alkohol an Minderjährige untersagten. Dazu gehörte auch ein Plakat, das zeigte, wie ein Ausweis mit akzeptablem Sichtbild auszusehen hatte. Auf der Theke lag eine zerkratzte Plexiglasscheibe, unter der eine Preisliste für Bier, Erfrischungsgetränke, Kaffee und Milchprodukte steckte. Hinten in der Ecke hörte Rhonda etwas leise rumpeln – aber das war nur der Automat für Erfrischungsgetränke beim Eismachen.
Sie trat zum verlassen dastehenden Tisch der freiwilligen Helfer. Notizblöcke, Telefone und das Notebook lagen unordentlich herum. Und außerdem stand da ein fast randvoller Styroporbecher mit Kakao. Rhonda nahm ihn in die Hand – das Getränk war noch warm.
«Rhonda.»
Rhonda fuhr beim Geräusch der Stimme zusammen und verschüttete die heiße Schokolade auf ihre Jeans.
«Ich wollte dich nicht erschrecken», sagte Pat. «Ich hatte noch im Büro zu tun, und plötzlich kam es mir so vor, als hätte ich ein Geräusch gehört.»
«Ich …», stammelte Rhonda. «Ich hatte mich nur gefragt, ob es schon etwas Neues gibt.»
Pat schüttelte den Kopf. «Noch nicht.» Sie sah auf den Becher mit heißer Schokolade in Rhondas Hand.
«Warren scheint ja inzwischen aufgetaucht zu sein?», fragte Rhonda.
Pat nickte langsam. «Er ist in meinem Büro. Ich glaube, er muss dir etwas erklären.»
Rhonda stellte den Styroporbecher ab, wischte sich die Hände an ihrer Jeans sauber und spähte durch den Laden zum Korridor, der ins Büro führte.
«Es wird Zeit, dass er dir die Wahrheit sagt», erklärte Pat.
«Wahrheit?», murmelte Rhonda.
Pat zeigte auf den Korridor, was Rhonda daran erinnerte, wie der Hase sie damals, vor vielen Jahren, an Ostern durch den Wald gewiesen hatte.
Jetzt war Warren das Körbchen mit den Süßigkeiten.
Mit Pat einen halben Schritt hinter sich, ging Rhonda zögernd zum Büro. Sie öffnete die Tür und trat ein.
«Was ist …», begann sie zu fragen und hielt dann inne.
In diesem Moment schlüpfte Pat herein, schloss die Tür und stellte sich mit dem Rücken davor. Neben der Tür lehnte ein Brecheisen an der Wand. Pat bückte sich und nahm es mit einer flinken Bewegung in die Hand.
s?
10. August 1993
«Warum?», fragte Rhonda. «Warum möchtest du unsere
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