Die Insel der Verlorenen - Roman
hinauf.
Es stimmte. Es war weder eine Luftspiegelung noch eine Illusion. In weiter Ferne zeichneten sich die Umrisse eines Schiffs ab. Ob es Kurs auf die Insel nahm oder vor ihr kreuzte, war noch unklar.
Arnaud glaubte, den Verstand zu verlieren; das war die Gelegenheit, die einzige Gelegenheit, seine Leute zu befreien, und aus Angst, das Schiff könnte ohne den Abstecher zur Insel seine Fahrt fortsetzen, traf er Vorbereitungen, ihm entgegenzurudern und den Weg abzuschneiden.
Sie bestiegen den einzigen Kahn, den sie hatten, und ruderten aus Leibeskräften aufs offene Meer hinaus. Sie hatten eine lange Stange mit einem weißen Tuch dabei, um sich bemerkbar zu machen.
Die Anspannung, die Verzweiflung, die Hoffnung verliehen den Männern ungeahnte Kräfte, so dass sie ohne Ermüdungserscheinungen weiterruderten.
Vom Turm der Klippe aus sahen Alicia, ihre Kinder und die zurückgebliebenen Frauen, wie sich der Kahn entfernte und beteten im Stillen für einen guten Ausgang des Unternehmens.
Mach, dass sie gesehen werden, Herr! Mach, dass sie gesehen werden!(…)
Vergeblich.
So stand es geschrieben. Jener 5. Oktober 1916 war ein Unglückstag (…)
Die Beobachter sahen ängstlich und verzweifelt, dass der Kahn plötzlich von einem Hindernis aufgehalten wurde, es gab einen Kampf an Bord.
Ein großer schwarzer Fleck umgab das leichte Boot und die Männer schlugen wie wild mit den Rudern darauf ein.
Es war ein Teufelsrochen!
Das Ganze dauerte nur wenige Augenblicke. Die Männer und ihr Schiffchen waren dem Meeresungeheuer weit unterlegen. Dies kippte den kleinen Kahn einfach um, so dass er unterging. Die Männer kamen nicht mehr an die Oberfläche. (…)
DannlagdasMeerwiederruhigda,alswärenichtsgeschehen.DieSilhouettedesSchiffeszoggleichgültigihresWeges. ***
** Aus: María Teresa Arnaud de Guzmán. La tragedia de Clipperton
*** Francisco Urquizo. El capitán Arnaud
Acapulco
– heute –
Ich bin in Acapulco, um herauszufinden, was aus Gustavo Schultz wurde, nachdem er Clipperton auf der Cleveland, einem Kanonenbootder US -Flotte, verlassen hatte. In einer Tageszeitung von 1935 entdeckte ich einen ersten Hinweis, das Ende des Knäuels, um die Geschichte zu entwirren: Der Deutsche kehrte niemals in seine Heimat zurück.
Nachdem Hauptmann Ramón Arnaud ihn von der Insel verstoßen hatte, blieb Schultz für den Rest seiner Tage im mexikanischen Hafen Acapulco. Was hielt ihn in einem Land, das nicht nur fremd war, sondern sich obendrein mitten in einer Revolution befand? Eine einzige Sache: ein Herzensversprechen. Ein Schwur, den er wenige Minuten vor der Abreise von Clippertons Küste einer Frau zurief, die er liebte und die er gegen seinen Willen zurücklassen musste. Die Strähnen vom Wind zerzaust, der Blick in den irren Augen glasig, hatte er Altagracia versprochen, dass er nicht ruhen würde, ehe er sie gerettet habe, dass er sie heiraten und glücklich machen würde. Und genau deshalb blieb er in Mexiko: weil er das Unmögliche möglich machen und sein Versprechen halten wollte.
Ich habe die Adresse eines der Häuser herausgefunden, wo er in Acapulco gewohnt hat. Es liegt auf einem weitläufigen Gelände mit primitiven Unterkünften im traditionellen Viertel von La Pocita. Ich unterhalte mich mit den alten Nachbarn des Viertels, die von ihm gehört haben und sich noch an den Namen erinnern können. Ich frage sie, ob er verrückt war, als er hier einzog, ob man zu irgendeiner Zeit die Anzeichen einer Geisteskrankheit an ihm bemerkt habe.
»Geisteskrank, nein, nie«, antworten sie. »Herr Schultz war in Acapulco ein angesehener Mann. Er war jemand, wurde geliebt und geachtet, weil er die Hafenstadt mit Trinkwasser versorgt hat. Das erste Aquädukt, das ist sein Werk. Sind Sie denn noch nicht in der Casa del Agua gewesen? Das ›Wasserhaus‹ ist inzwischen eine beliebte Touristenattraktion, früher war das viele Jahre sein Zuhause. Zuerst hat er hier in dieser Siedlung gelebt, in dem Haus hier, aber später, nachdem er die Wasserversorgung eingerichtet hatte, ist er dorthin gezogen.«
Im Wasserhaus kann man die Tanks, die Wasserbehälter und hydraulischen Anlagen besichtigen, die Gustavo Schultz in die Stadt brachte, selbst installiert und vermutlich mit der gleichen minutiösen Genauigkeit in Betrieb genommen hat wie die Decauville -Strecke in Clipperton.
Ein paar Jahre später bekam er die mexikanische Staatsbürgerschaft und erklärte sich bereit, ein öffentliches Amt zu übernehmen, das er nicht
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