Die Insel der Verlorenen - Roman
gesellte sich ein schwarzes mit kreuzförmigen Segeln, und ein weiteres, das lichterloh brennend übers Meer glitt, so dass die Frauen mit der Zeit zu der Überzeugung kamen, dass es die Mary Celeste war, die Arnaud und Cardona getäuscht hatte, das Katastrophenschiff, das Tod und Unglück anzog wie ein Magnet das Metall.
DieübernatürlichenErscheinungennahmenzu,undbestandenbaldnichtmehrausEinzelnen,sondernausganzenGruppen.NachtfürNachtsankdieTemperatur,dannbrachderGeisterzugvomgroßenSüdfelsenaufzuseinemPilgerrundgangumdieInsel,mitbrennendenFackeln,betendundKettenrasselnd,hinterließerBriefeundBotschaftenfürdieLebendenamStrand.EswarendieSeelenalleraufClippertonVerstorbenen,angefangenbeidenverurteiltenPiraten,diedemGesetzdes maroon ausgeliefertwurden,biszudemholländischenMatrosen,deraufderStreckenachAcapulcoertrunkenwar.AnfangsnahmendieFrauenReißausundschlossensichimHausein,hieltendieArmeüberdieKöpfe,umdenFackelzugnichtsehenunddasTapptappderSchrittenichthörenzumüssen.DanngingensieaufdenBalkonhinausundwartetenkniend,bisdieGeisteranihnenvorübergezogenwaren.AmnächstenTagstandensiefrühaufundgingendieBotschaftenausdemJenseitseinsammeln.EnthieltensieAnweisungenoderWünsche,soerfülltensiediesewortgetreu.Esdauertenichtallzulange,daschlossensichdieLebendendernächtlichenWanderungderSeelenan.GegendenausdrücklichenWunschvonAliciaundTirsa,diestriktdagegenwaren,liefenFrancisca,BenitaundRosalía,undmanchmalAltagracia,dieganzeNachthinterihrenVerstorbenenherundwaren,wennderMorgenaufzog,genausohohlwangigwiedieTotenundohnedenleisestenDrang,ihrTagwerkanzupacken.
Die Geister wurden launisch und fordernd, und alsbald nahm die Erfüllung ihrer Anweisungen die ganze Zeit der Lebenden in Anspruch. Sie verlangten steinerne Altäre, Zeremonien, Speiseopfer und auch Dinge, die auf der Insel unmöglich zu bekommen waren, wie Zigaretten und die feurig blühenden Zweige des cempaxuchitl gegen den Hunger, der sie im Grab peinigte. Die Insel sah bald aus wie ein primitives Sanktuarium. Überall standen Steinaltäre mit Essensresten, vergilbte Fotografien von Verstorbenen und deren kümmerliche Hinterlassenschaften: ein Strohhut, eine Sandale, ein Rasiermesser, ein Taschentuch, ein Madonnenbildchen.
Eines Nachts blieben Tirsa und Alicia allein zu Hause mit allen Kindern, während die anderen in der Prozession mitliefen. Tirsa erzählte Alicia, sie habe entdeckt, dass Benita und Francisca sich geißelten und Bußgürtel in Form von alten Stricken anlegten, die sie sich um die Oberschenkel schnürten.
»So geht das nicht weiter«, sagte Alicia, »es fehlt nur noch, dass wir uns hier lebendig begraben.«
Sie einigten sich auf einen radikalen Schritt – für die anderen und für sich selbst. Sie wollten dem wahnwitzigen Treiben ein für alle Mal ein Ende setzen, um ihrer aller Gesundheit willen, und um sich und die anderen zu retten. Sie verabschiedeten sich für immer von Ramóns und Secundinos Seelen, nachdem sie ihnen die Lage geschildert hatten, anschließend verfassten sie fünf Gebote. Sie schworen, diese durchzusetzen, bis wieder Normalität einkehrte und der gesunde Menschenverstand die Oberhand gewann, selbst auf die Gefahr, Strafen und Sanktionen verhängen zu müssen, wenn eine sich widersetzte. Sie schnitzten ihre Regeln in großen Lettern mit einem Messer in die Hauswand, und als die anderen am Morgen zurückkamen, lasen sie überrascht diesen Pentalog:
Erstens: Es ist ausdrücklich verboten, zu beten, Altäre zu bauen und Opfer zu bringen.
Zweitens: Es gibt nur die Dinge und die Menschen, die wir sehen und anfassen können. Alle anderen werden für immer von Clipperton verbannt. Der Umgang mit den Toten ist verboten.
Drittens: Niemand verlässt nachts das Haus, außer für kurze Erledigungen, die einer Genehmigung bedürfen. Die Nachtstunden sind zum Ausruhen da und dafür, bei den Kindern zu bleiben und sie zu beschützen.
Viertens: Niemand darf einem Kind Angst einjagen oder ihm von Dingen erzählen, die es nicht gibt.
Fünftens: Wer mit Worten oder Werken eins dieser Gebote übertritt, wird aus dem Haus verbannt, von seinen Kindern getrennt und dazu verdammt, allein zu leben.
Alicia und Tirsa gingen über die Insel, um Altäre niederzureißen und Idole und Fetische zu verbrennen. Alicias moralische Autorität und ihre Respekt einflößende Persönlichkeit, Tirsas Körperkraft und ihr Mut sowie der unerschütterliche Bund zwischen beiden, war die Garantie dafür, jene unheimliche Phase zu überwinden, in der
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