Die Insel der Verlorenen - Roman
die Toten auf Clipperton die Herrschaft übernahmen und die Lebenden zu ihren Sklaven machten.
Obwohl sie der Belagerung des Immateriellen selbst den Kampf angesagt hatte, begann Alicia, seltsame Dinge zu empfinden, unerklärliche Präsenzen. Sie spürte, dass sie schwächer wurde, und dass irgendetwas an ihren Kräften zehrte; etwas hamsterte die Nahrung, die sie zu sich nahm, saugte die Flüssigkeit auf, wenn sie ihren Durst stillte. Jemand nahm ihr den Atem, wenn sie Luft holte und raubte das Blut aus ihrem Herzen. Es kam ihr vor, als wohnte etwas in ihr, klein, aber mächtig, das sich mit ihrer Energie speiste und auf ihre Kosten gedieh, das in dem Maße stärker wurde, wie ihrem von Unterernährung und Erschöpfung geschwächten Organismus die Kräfte schwanden.
Nachdem das Meer ihren Mann schon seit zwei Monaten verschlungen hatte, dämmerte Alicia allmählich, was mit ihr los war. Es war genauso offensichtlich wie simpel, und dass sie nicht schon vorher darauf gekommen war, hing mit ihrer panischen Angst zusammen, es sich einzugestehen. Sie rief Tirsa.
»Ich bin schwanger«, eröffnete sie ihr.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, erwiderte Tirsa. »Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich nicht sicher war, aber ich glaube, ich auch.«
In jener Nacht versteckte sich Alicia in der Küche und ließ ihren Tränen freien Lauf, wie sie es bei Ramóns Tod nicht vermocht hatte, ja sie übertrat sogar ihr eigenes Gebot und sprach wieder mit ihm, nachdem sie es eine ganze Weile unterlassen hatte.
»Ich habe dich oft gebeten zurückzukommen«, sagte sie zu ihm, »aber nicht so. Ich habe gesagt, dass ich dich brauche, zum Reden und damit du mich beschützt, und was schickst du mir statt deiner: noch ein Kind.«
Altagracia merkte, was los war, und kam sie trösten.
»Keine Sorge, Señora, ich werde bald geholt. Dann nehme ich Sie mit und die anderen auch«, sagte sie.
»Du? Wer soll dich denn holen kommen?«
»Das ist geheim.«
»Fang bloß nicht wieder mit den Geschichten von den Toten an, du weißt, das ist verboten.«
»Es ist kein Toter, es ist ein Lebender.«
»Ein Lebender! Sag mir, wer es ist!«
»Der Deutsche.«
»Schultz?«
»Genau. Er hat mir versprochen, dass er mich holen kommt.«
»Hör auf zu träumen, Kind. Da sind wir ja fast mit den Gespenstern noch besser dran.«
»Er wird kommen, weil er es mir versprochen hat.«
»Er hat es dir versprochen, weil er verrückt war.«
»Er war nicht verrückt, er war einsam, und ich habe ihn geheilt.«
»Es reicht! Jetzt baust du ihm wohl einen Altar, deinem heiligen Blonden, und betest ihn an, damit er für dich das Wunder vollbringt.«
»Es geht nicht um ein Wunder, Señora, er liebt mich, das ist alles.«
»Es ist schon über ein Jahr her, dass er weggefahren ist, und bis jetzt ist er jedenfalls nicht gekommen.«
»Aber er will zu mir, das weiß ich.«
»Den haben sie bestimmt ins Irrenhaus gesperrt.«
»Dann bricht er eben aus und holt mich.«
»Schon gut, glaub, was du willst. Vielleicht hast du ja recht. Es ist sicher das Beste, wenn du weiter an die Liebe deines Deutschen glaubst, vielleicht hast du Glück und er ist am Leben. Klammere dich an deine Erinnerungen, damit dir die Trübsal nicht die Kraft raubt wie uns.«
Mexiko-Stadt
– heute –
Die Umstände im Zusammenhang mit dem Tod von Hauptmann Ramón Arnaud und Leutnant Secundino Ángel Cardona sind an mehreren Stellen unklar.
Als Erstes das genaue Datum, Tag, Monat und Jahr, in dem es sich zugetragen hat.
Als Zweites die Gattung des Fischs, der ihren Schleppkahn kenterte oder ihnen auf andere Weise ein Ende bereitete, als sie ins Wasser fielen: War überhaupt ein Fisch im Spiel? Und wenn ja, ein Teufelsrochen oder etwa Haie?
AlsDrittesdiekomplexereFragezudemSchiff,dasanjenemTagamHorizonterschienunddemdiebeidenMännerentgegenruderten.WardatatsächlicheinSchiff?OderwareseinvonderFurchteinesMannesoderdemkollektivenWunschdenkenderÜberlebendenvonClippertonerzeugtesTrugbild?
Die vier Dokumente, die ich als Zeugnisse zu dieser Episode gefunden habe, widersprechen sich.
Erstens: der Brief der Krankenschwester María Noriega, der rechtmäßigen Ehefrau von Leutnant Cardona, datiert auf Juli 1940, in dem sie ihre Witwenrente vom mexikanischen Staat einfordert:
Herr General der Division
Lázaro Cárdenas
Regierungspalast
Anwesend
Ich bin die Witwe des Infanterieleutnants Secundino Ángel Cardona, der auf Befehl des Kriegs- und Marineministeriums mit einer Einheit des 13.
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