Die Insel der Verlorenen - Roman
nur würdig, sondern auch mit teutonischer Gründlichkeit ausfüllte: den Posten des Hafenkapitäns.
»Hatte er Kinder?«, frage ich die Leute.
Sie verneinen, allerdings habe er ein neugeborenes Kind aus einem Waisenhaus adoptiert, einen Mexikaner, dem er seinen Vor- und Zunamen gab.
Ich suche nach Gustavo Schultz, dem Adoptivkind, dort, wo er nach Aussagen der Leute arbeitet. Er verkauft Hühner an seinem eigenen Stand in der Großmarkthalle von Acapulco. Die Gänge sind mit Wasser und Desinfektionsmittel frisch geschrubbt. Bald verliere ich in diesem Labyrinth aus allen erdenklich Farben und Gerüchen die Orientierung. Mein Weg führt mich an knisternden piñatas in Gestalt von Sternen, Schiffen oder Stieren vorbei; an Mangos und Cherimoyas, an den achtundfünfzig Varianten des Chile; an Jesuskindern mit Krone, Umhang und Thron; an den Ständen von Flickschneiderinnen, die vor ihren vorsintflutlichen Nähmaschinen auf Kundschaft warten. Ich bewege mich zwischen Maiskolben, Süßkartoffeln und essbaren Kaktusblättern; zwischen gedeckten Tischen, wo man Platz nehmen und sich gütlich tun kann an tacos , flautas und burritos , die von flinken, schwitzenden Köchinnen gebacken werden. Ich sehe den Vogel huitlacoche und die schier endlosen Pilzsorten, mir werden gestreifte sarapes angeboten, große Schultertücher und handgestickte Blusen. Man will mir Pappmaché verkaufen, Totenköpfe aus Zucker und die Totenblume cempaxuchitl , Kürbisblüten für die Suppe, Jamaikablüten für einen erfrischenden kalten Tee. Ich dränge mich an Fleischständen vorbei, und schiebe dabei mit der Schulter Rinderkeulen und Ziegenköpfe beiseite. Endlich bin ich bei den Hühnern.
In einer Reihe sind sie an den Beinen dicht an dicht aufgehängt, hässlich und gerupft, die toten Augen mit feindseligem Blick. Tausende von Hühnern, feilgeboten an über zweihundert Ständen und an jeder Theke steht mindestens ein Verkäufer. Ich gehe von einem Stand zum anderen und frage: »Sind Sie Gustavo Schultz oder kennen Sie ihn?«
»Er hat sein Geschäft hier gehabt, ist aber vor drei Jahren verstorben. Sein Sohn, der genauso heißt wie er, lebt in Chilpancingo, Guerrero.«
Gustavo Schultz, der Deutsche, Gustavo Schultz, sein Sohn, Gustavo Schultz, sein Enkel. Ich blättere im Telefonbuch von Chilpancingo, führe ein Ferngespräch und rede mit dem letzten Schultz, dem Einzigen von den dreien, der noch lebt. Die Stimme klingt jung, er erzählt, dass er in der Politik ist. Er erinnert sich an den Großvater als einen hellblonden, sehr weißhäutigen Mann mit dichten Brauen. Er sagt, dass weder sein Vater noch er, die dunkelhäutig sind, ihm äußerlich ähneln, weil sie nicht durch Blutsbande verwandt seien. Er gibt zu, dass ihm die Einzelheiten der Tragödie von Clipperton völlig unbekannt sind, weil sich die Familie nicht gern an diese schmerzliche Episode der Vergangenheit erinnert habe.
Mehr könne er mir auch nicht sagen, gesteht er, aber, um mich nicht zu enttäuschen, liest er mir, durch den Hörer, ein Interview vor, das er seit Jahren aufbewahrt. Der Journalist Hernán Rosales führte es mit seinem Großvater und veröffentlichte es am 14. Mai 1935 in der Tageszeitung El Universal . Es handelt sich um einen Artikel, in dem Schultz mehr von den anderen als von sich selbst preisgibt. Der Enkel liest es mir stockend vor, weil der Zeitungsausschnitt, wie er mir erklärt, schon vergilbt ist und deshalb schlecht zu lesen. Per Telefon höre ich also die Geschichte des ersten Gustavo Schultz, in knappen Worten von ihm selbst erzählt.
Er berichtet, dass er 1904, im Alter von 24 Jahren, ohne lange zu überlegen, in San Francisco das Schiff zu einem Ort bestiegen habe, dessen Namen er noch nie gehört hatte, die Insel Clipperton. Dort sollte er als Betriebsleiter einer englischen Phosphat-Gesellschaft arbeiten. Am Ziel angelangt, machte ihn das unbewohnte, öde Eiland schwermütig: »Ich führte dort das Leben eines Robinson Crusoe.« In dem dringenden Bedürfnis, etwas Lebendiges, Grünes zu sehen und zu berühren, brach er in seinem Segelboot zur Insel Socorro, im Archipel Revillagigedo auf und brachte von dort dreizehn zarte Kokospalmen und 40 Tonnen Erde mit, um sie einzupflanzen. Da der Mensch nicht nur von Kokosnüssen lebt, importierte er auch eine Begleiterin: eine junge Frau mit Namen Daría Pinzón und deren Tochter Jesusa Lacursa.
Zurück auf der Insel Clipperton, lebte er mit der Frau zusammen und sah die selbst gepflanzten Palmen
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