Die Insel der Verlorenen - Roman
einen Lumpen am Ende eines Stocks befestigt – es gab schon lange keine Besen mehr – und fegte damit den Sand aus dem Haus. Seit nunmehr sieben Jahren war das tagtäglich ihre Aufgabe und sie war es auch jetzt, obwohl sie nur noch in Trümmern lebten. Von der Anstrengung erschöpft, musste sie sich setzen und ausruhen. Die vorangehenden Schwangerschaften hatten ihren Körper mit einer solchen Freude und Kraft durchströmt, dass sie es kaum fassen konnte. Diese nicht. Die Unterernährung zeigte ihr zerstörerisches Werk. Sie fühlte sich matt und war frühzeitig gealtert, dazu ständig missmutig. Der Gedanke an den Wettkampf mit dem eigenen Kind um die wenigen Nährstoffe, die in ihren Organismus gelangten, quälte sie. Um festzustellen, ob das Baby noch stärker unter dem Mangel litt als sie selbst, brauchte sie nur an sich herabzuschauen: Ihr Bauch wölbte sich im fünften Monat noch nicht einmal so wie bei den anderen Kindern im dritten.
Tirsa Rendón ging es nicht anders. Mit einem Monat Rückstand gegenüber Alicia zehrte das Austragen eines Kindes auch an ihr. Tirsa, die Tapfere, die Starke, die allein drei Viertel ihrer aller Nahrung beschaffte, wich einer abwesenden, erloschenen Tirsa, die ihre unendliche Erschöpfung hinter einer gleichgültigen Miene verbarg.
Alicia erhob sich, um fertigzukehren. Jedes Mal, wenn ein Zimmer vom Sand befreit war, kamen die Kinder hereingelaufen und es sah genauso aus wie vorher.
»Es kostet mich mehr Kraft, sie auszuschimpfen«, sagte sie zu sich selbst, »als noch mal zu kehren.«
SiebetratdiekleineKammernebenihremSchlafzimmer.AnstelledesbuntenGlasfenstersklafftejetzteingroßesLoch,durchdasderWindhereinwehte.Anstattdeswurmstichigen Schemels,denderOrkanmitgenommenhatte,standeineHolzkisteda,aufdieließsiesichnieder.DannöffnetesiedieTruhe,inderihreliebstenSachenlagerten.SieholteRamónsGalauniformheraus:dieUniformjackeausTuchmitdoppelterKnopfreihe,EpaulettenunddenimmernochgoldenenÄhren,sowieseinenvondergelöstenTresse halbzerdrücktenTschako,seinSchwertundseineschwarzenStiefel.SieholteihrBrautkleidherausmitderachtzehnMeterlangenSpitzenschleppeundeinDutzendTischdeckenundLaken,darunterdasheiligeLakenderHochzeitsnacht.DieMatrosenanzügeihrerälterenKinder,diejetztdenjüngerenpassenwürden.EinpaarniegetrageneKleidungsstückevonihr,diesieinderHauptstadtgekaufthatte,beiihremletzten – undeinzigen – AusflugnachMexiko-Stadt.SorgfältiginSeidenpapierverpacktalterteeinhalbaufgebrauchtesStückIvory-Seife.Siewickelteesausundschnuppertedaran,dannlegtesieesinsPapierzurück.AuseinemSilberrahmenmitgesprungenemGlaslächeltesieihrVatervoneinemFotoan,ganzinWeiß,alsernochjungwar.SielöstedasSeidenbandvoneinemdickenBündelGeldscheineundzähltesie:EswarenviertausendzweihundertPesos,RamónsundihregemeinsamenErsparnisse.SieholtedieHaarbürstemitdemSilbergriffheraus,öffneteihrHaarundbegannes,zumerstenMalseitMonaten,zubürsten.Esfielihrbüschelweiseaus,undsiedrehtediezwischendenSchweinsborstenhängengebliebenenHaarezueinemKnäuel.
»Sobald Tirsa kommt«, sagte sie zu sich selbst, »werde ich ihr sagen, dass wir uns die Haare abschneiden müssen, gleich morgen. Wir brauchen jetzt keine langen Haare mehr, im Gegenteil, sie rauben uns nur das Calcium und das Eisen für die Kinder.«
Sie hob den Deckel von ihrem Schmuckkästchen. Darin lagen der Diamantring und die passenden Ohrclips, eine Saphirbrosche, mehrere Fingerringe und Goldketten, ein paar schwarze Korallenzweige, die ihr die Kinder aus dem Meer geholt und geschenkt hatten. Ganz unten fand sie, was sie gesucht hatte: die graue Perlenkette, die ihr Ramón aus Japan mitgebracht hatte. Sie zog sie an und streichelte sie lange, als wollten sich ihre Fingerkuppen die kleinsten Unebenheit jeder Perle einprägen.
Dann faltete sie alles wieder zusammen und legte es in die Truhe zurück, bis auf die Laken und Tischdecken. Die brauchte sie, um sich nachts zuzudecken, sich nach dem Baden abzutrocknen, die Kinder zu kleiden und denen, die unterwegs waren, Windeln zuzuschneiden. Sie zog den groben Segeltuchponcho aus und schlang sich das heilige Laken wie eine Tunika um den Leib. Sie schloss die Truhe fest zu und zog sie auf den Balkon hinaus, nach jedem Ruck musste sie verschnaufen. Als sie unmittelbar vor der Kante stand, gab sie ihr einen Stoß. Die Truhe fiel eineinhalb Meter und blieb im Sand stecken. Sie ging hinunter und verbrachte den restlichen Vormittag damit, ein Loch drum herum zu graben.
»Was machst du, Mama?«
»Ich vergrabe die
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