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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Leihgaben erbeten hatte. An den folgenden Tagen sahen sie ihn nur wenig. Aber sie merkten, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt, weil ihn sein Grabesgeruch verriet, und sie das Knacken seiner Knochen und das Schlurfen seiner Schritte erkennen lernten. Alicia und Tirsa vermuteten, dass er mit seinen Gängen die Absicht verfolgte, sich heimlich mit Benita zu treffen. Ab und zu erschien er am Haus, brachte Meeresfrüchte oder Fisch. Sie gaben ihm zu essen, und er setzte sich hin und käute mit seinem zahnlosen Mund, wortlos, die Nahrung wieder. Wenn sie welche hatten, gaben sie ihm auch Hausmittel gegen seine Beschwerden. Der Lebertran vom Kabeljau beispielsweise wärmte, wenn man ihn kräftig einrieb, die Glieder und half gegen Rheuma. Und Muschelsalbe aus Perlmutt beruhigte die alten Narben, über deren Jucken er sich beklagte.
    Eines Abends war es schon spät und Benita war noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Sie liefen die Umgebung ab und riefen ihren Namen, bekamen aber keine Antwort. Sie hatten den Verdacht, dass sie im Wärterhaus beim Leuchtturm war und gingen sie dort suchen. Victoriano empfing sie breitbeinig in der Türöffnung, damit sie nicht hereinkonnten.
    »Wir kommen Benita holen.«
    »Sie ist bei mir, und ihr werdet sie mir nicht wegnehmen.«
    »Benita? Willst du hierbleiben?«, rief Alicia hinein.
    »Ja, Señora, ich bleib hier«, war ihre Stimme von innen zu vernehmen.
    Mehrere Wochen lang begegneten sie beiden nicht mehr, bis Rosalía eines Morgens, als sie am Steilufer Krabben fing, Benitas Leichnam entdeckte. Ihr Kopf war aufgeschlagen und ihr ganzer Körper mit Flecken übersät.
    »Sie ist im Schlamm ausgerutscht und hat sich am Kopf verletzt, die Ärmste!«
    »Was hat sie denn am Körper? All die roten Male?«
    »Judasküsse … «
    »Die Kraken haben sich an ihr festgesaugt … «
    »Nein«, sagte Tirsa, langsam und düster. »Victoriano hat sie geschlagen und sie umgebracht. Und er wird kommen und die Nächste holen.«
    Am Abend desselben Tages gewahrten sie, wie er sich unsichtbar in der Dunkelheit näherte. Als die Luft zum Schneiden war und man das Klappern von Oberschenkelknochen und Schienbeinen vernahm, gingen Alicia und Tirsa vor das Haus und versperrten ihm, die schwangeren Bäuche vor sich hertragend, den Weg.
    »Du bist ein Mörder und ins Haus kommst du nicht.«
    »Ich gehe hin, wo ich will, weil ich jetzt der Gouverneur bin.«
    Die Wolken, die den Mond verschleierten wie eine Gardine, schoben sich zur Seite, so dass ein milchiges Licht vom Himmel fiel und den kampflustigen Aufzug des leprösen Piraten und zerlumpten Kriegers beschien: Drei Dolche steckten in seinem Gürtel, er hatte ein Gewehr über der Schulter und schwang einen Knüppel.
    »Warum hast du sie umgebracht?«
    »Ich habe sie umgebracht, weil sie aufmüpfig wurde und zu nichts nütze war. Nur dass ihr es wisst: Jetzt bin ich der Gouverneur, ich befehle hier und alle Frauen gehören mir und machen, was ich will. Euch zwei nehme ich mit, sobald ihr eure Kinder auf die Welt gebracht habt.«
    »Deine Verbrechen werden dich teuer zu stehen kommen, Victoriano«, drohte Alicia ihm.
    »Ach, Señora, wer soll denn mit mir abrechnen, etwa Sie?«
    »Die Justiz, sobald sie uns retten kommen.«
    »Sie kommen nicht, und wenn sie kommen, dann bringe ich euch vorher alle um, damit keine es ihnen erzählen kann. Und wenn Sie jetzt keine Prügel beziehen wollen, dann gehen Sie mir aus dem Weg, weil ich reinwill.«
    Er schubste sie mit dem linken Ellbogen beiseite, drang ins Haus ein, schnappte sich Altagracia, schubste sie um, so dass sie fiel, und zog sie an den Haaren zu sich. An ihren langen blauschwarzen Haaren, ein einziges Schimmern in Schwarz und Blau.
    »Die hier nehme ich mit«, sagte er. »Damit sie für mich kocht und mich lieb hat.«
    Er entfernte sich, indem er unter Schmerzen auf seinen wackeligen Beinen vorwärtswankte, Altagracia auf dem Rücken. Sie ließ sich mitschleppen, kopfüber, wie ein Mehlsack, schloss Augen, Ohren und Verstand, um nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu fühlen. Ihr Haar fiel bis zum Boden, fegte ihn und hinterließ eine Spur im Sand und im Muschelkalk.
    Daraufhin setzten wenige Stunden später bei Alicia die Wehen ein. Sie gebar einen Siebenmonatsjungen, durchsichtig und zart wie ein Seufzer, dazu mit einem Engelsgesichtchen, dass sie dachten, er würde auf der Stelle in den Himmel zurückkehren. Damit er nicht auf halber Strecke steckenblieb und im Fegefeuer leiden musste, tauften

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