Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
sie ihn sofort nach der Geburt, mit Wasser auf dem Kopf und Salz im Mund, und gaben ihm den Namen von Ramóns Vater, Ángel Miguel. Alicia konnte ihn nicht stillen.
    »Deine Angst verhindert das Einschießen der Milch«, sagte Tirsa zu ihr.
    Sie hielten ihn mit einem Gemisch aus Kokosmilch und dem Eiweiß der Vogeleier am Leben, bis Tirsa entband. Sie bekam ein Mädchen, das sie Guadalupe Cardona nannte, groß und kräftig, und Tirsa gab beiden die Brust. Doch wurden weder die eine noch der andere satt, so dass die Säuglinge den lieben langen Tag weinten, Lupe mit einem volltönenden, lauten Gebell, und der Junge mit dem Gezwitscher eines kranken Vögelchens. Aber weder die eine noch der andere wollten sterben, alle beide klammerten sie sich an dieses Leben.
    Alicia und Tirsa wussten, dass nun die Stunde gekommen war, es mit Victoriano aufzunehmen. Waffen hatten sie – ein paar Pistolen und alte Karabiner aus dem Arsenal der Garnison, aber keine Munition. Die war schon seit Jahren aufgebraucht.
    »Das ist, als hätte man eine Mutter, nur tot«, fand Tirsa.
    Trotz seines Zustands übte der Schwarze über sie Macht aus, er war ein sicherer Schütze. Und weil sein schlimmes Schicksal ihn böse gemacht hatte, war die Konfrontation mit ihm so, als sollten sie einen Berg herausfordern.
    »Wie dem auch sei, wir müssen ihn töten. Das ist unsere Pflicht«, fand Tirsa und ließ sich von niemandem davon abbringen.
    »Unsere einzige Pflicht ist, am Leben zu bleiben, für unsere Kinder«, urteilte Alicia.
    Uneinigkeit und Angst lähmten sie, und obwohl ihnen der Gedanke zu schaffen machte, dass für Altagracia jede Minute die letzte sein konnte, verbrachten sie die Nächte in Diskussionen darüber, was sie tun sollten, und taten nichts. Endlich einigten sie sich auf einen Mittelweg. Sie wollten versuchen, ihn umzubringen, aber ohne das Risiko einzugehen, dass er sie umbrächte.
    »Gift«, schlug Alicia vor und lief, die Fläschchen durchkramen, die von Ramóns Apotheke übriggeblieben waren. Die meisten waren kaputt, leer oder ausgetrocknet, aber die blaue Flasche, die sie im Sinn hatte, war noch ganz. In all den Jahren war sie kein einziges Mal geöffnet worden. Sogar das Etikett mit dem Namen war noch vollständig »Agua Zafia (Arandula Vertiginosa)«, ein roter Aufkleber, worauf zu lesen stand, »lebensgefährlich«, darunter eine Gebrauchsanweisung in Arnauds Handschrift: »Ein Tropfen in einem halben Glas Wasser nach dem Essen vertreibt das Sodbrennen; zwei, um elf Uhr, regen den Appetit an; fünf wirken als bemerkenswertes Aphrodisiakum; zehn Tropfen täglich sind ein gutes Herztonikum und verlängern das Leben; dreißig Tropfen, auf einmal eingenommen, gefährden dies und zwei Löffel Agua zafia bringen jeden um.« Sie mussten Altagracia als Komplizin gewinnen und suchten einen Weg, mit ihr Kontakt aufzunehmen, ohne dass Victoriano etwas bemerkte. Sie entdeckten, dass das am besten frühmorgens ging, wenn der Schwarze im Tiefschlaf lag. Altagracia war in der Festung ihrer Träume eingemauert und unerreichbar.
    »Tut er dir sehr weh?«, fragten sie leise, um den Mann nicht zu wecken.
    »Er tut nur meinem Körper weh«, erwiderte sie, »weil mein Kopf immer an den denkt, der mich liebt, und mit ihm ganz weit von hier weggeht.«
    »Dich retten deine Erinnerungen an den Deutschen, und du wirst unsere Rettung sein.«
    Sie gaben ihr die Fischsuppe, dick und großzügig mit zwei Löffeln Agua Zafia angereichert, die sie darin aufgelöst hatten. Sie schärften ihr ein, dass sie ihm die einflößen müsse, damit er starb. Dass sie auf keinen Fall davon kosten dürfe, nicht einen einzigen Löffel. Sie sollte ihm sagen, sie hätte die extra für ihn gekocht.
    »Das wird er mir nicht abnehmen«, widersprach Altagracia, »weil ich ihm nicht mal etwas koche, wenn er mich schlägt, um mich dazu zu bringen.«
    Sie überzeugten sie, sie umarmten sie, sie segneten sie und gingen zurück. Zwei Tage lang hörten und sahen sie nichts, weder von Altagracia noch von Victoriano, und marterten sich, indem sie sämtliche Möglichkeiten durchspielten:
    »Er hat bestimmt nur die Dosis des Aphrodisiakums geschluckt und kommt uns jetzt alle vergewaltigen.«
    »Oder die Dosis für ein langes Leben, und ihn haut nichts mehr um.«
    »Oder das Gift hat ihm geschmeckt und er will jetzt mehr Suppe … «
    Am dritten Tag erschien er, wutschnaubend wie ein wildes Tier, entstellter und abstoßender denn je, weil er, wie seinem Knurren zu entnehmen war, die

Weitere Kostenlose Bücher