Die Insel der Verlorenen - Roman
Truhe.«
»Wieso?«
»Damit nichts von dem wegkommt, was drin ist.«
»Und was ist da drin?«
»Kleidung und Geld, das brauche ich für den Tag, an dem wir gerettet werden.«
»Werden wir denn gerettet?«
»Kann sein.«
»Ich würde lieber hierbleiben. Und du?«
»Ich nicht.«
»Wieso? Ist es denn woanders besser?«
»Viel besser. Vielleicht.«
»Und wozu brauchst du Kleidung für den Tag, an dem wir gerettet werden?«
»Um kein Mitleid zu erregen.«
»Hast du auch für mich Kleider da drin?«
»Nein, für dich nicht. Deine sind dir schon zu klein.«
»Dann werde ich also Mitleid erregen?«
»Nein. Sobald wir von Bord gehen, kaufe ich dir einen neuen Anzug. Und Schuhe.«
»Ich mag keine Schuhe.«
»Dort wirst du sie mögen.«
»Mir gefällt es dort nicht. Ich will nicht weg.«
Die anderen Frauen waren zur Steilküste am Riff gegangen. Sie ließen sich jeden Tag über die schroffen Felsenstufen ins Meer hinunter und wichen mit geschickten Manövern der Brandung aus, um ihm Tintenfische, Austern und Garnelen zu entreißen. Tirsa, die Geschickteste bei dieser Aufgabe, konnte nicht mehr mitmachen und beschränkte sich darauf, sie von oben zu dirigieren. Alicia hörte ihre Stimmen näher kommen.
»Sie sind schon da«, sagte sie zu Ramón, »lass uns schnell fertig werden. Heute sind sie früher zurück, wahrscheinlich haben sie viel rausgeholt.«
Mit wehenden Mähnen wie junge Pferde kamen sie angerannt, ohne etwas zu essen mitzubringen. Wortlos stellten sie sich im Halbkreis um Alicia herum. Als diese ihr atemloses Keuchen bemerkte, ihre Verwirrung und die vor Schreck geweiteten Augen, fragte sie:
»Was ist passiert, um Gottes willen? Ist jemand ertrunken?«
»Nein, Señora.«
»Was ist passiert? Warum sagt ihr mir nicht, was los ist?«
»Weil Sie uns ausschimpfen werden, wenn wir es tun, Señora.«
»Die Kinder! Ist etwas mit den Kindern?«
»Nein, es ist nichts mit den Kindern. Wir haben an der Steilküste … da haben wir den Teufel gesehen.«
»Wollt ihr jetzt wieder mit diesen Geschichten anfangen?«, bellte Alicia, ohne ihren Zorn zu zügeln.
Da kam als letzte Tirsa angetrottet.
»Es stimmt, Alicia«, sagte sie. »Diesmal habe ich ihn auch gesehen.«
»Du hast Luzifer gesehen? Du also auch?«, in Alicias Stimme lag mehr Hohn als Erstaunen.
»Ja«, sagte Tirsa. »Ich auch. Ich weiß nicht, ob es der Teufel ist, aber es ist jedenfalls etwas ziemlich Schreckliches.«
Dann plapperten sie alle gleichzeitig drauflos: Er war groß, riesig, pechschwarz, mit abstehenden Haaren und roten Haaren, sein ganzer Körper war behaart, nur sein Rücken war behaart, die Augen sprühten Funken, nein, die Augen waren menschlich, aber der Mund war wie das Maul eines wilden Tieres. Er ging auf allen vieren, hatte aber ein menschliches Gesicht, er ging nicht auf allen vieren, er ging auf drei Beinen, wie auch immer, jedenfalls ging er nicht wie jeder normale Mensch auf zwei Beinen. Er hatte dunkle Haut, war ausgetrocknet, war geschuppt wie ein Leguan. Er stank, sie hatten ihn schon gerochen, bevor er auf der Klippe erschien, ein Fäulnisgestank wie der Tod. Er ging nackt und sein Geschlecht war das des Teufels, jedenfalls sehr groß, also war er männlich, soviel stand fest, ohne jeden Zweifel.
»Also der Teufel ist das bestimmt nicht«, schloss Alicia. »Es ist entweder ein Mensch oder ein Tier. Oder gar nichts, wie all die anderen Gespenster, die sich hier herumgetrieben haben.«
»Er ist ein Tier«, sagten die einen.
»Er ist ein Mensch«, sagten die anderen.
»Könnte es vielleicht ein Schiffbrüchiger sein, der hier gelandet ist?«, fragte Alicia.
»Also, wenn das ein Schiffbrüchiger ist«, erwiderte Tirsa, »dann muss er Jahre auf dem Meeresgrund gehaust haben.«
Sie beschlossen, dass sich eine Gruppe Frauen mit Stöcken bewaffnen und mit Tirsa vorneweg die Insel ablaufen sollte. Sie wollten all die Plätze absuchen, an denen sie nicht mehr gewesen waren, seit sie ihren Aktionsradius auf das Unvermeidliche begrenzt hatten.
»Lasst uns heute nicht mehr gehen, es ist schon spät und wird bald dunkel.«
»Ja«, fand auch Tirsa. »Besser, wir gehen morgen bei Tageslicht.«
»Das Beste wird sein, wenn wir gar nicht gehen«, beschloss Alicia. »Wir sollten ihn nicht suchen gehen, sondern warten, bis er von selbst auftaucht. Es hat schließlich keine Eile. Bis jetzt hat er uns nichts getan.«
Sie schliefen unruhig, obwohl nachts nichts Ungewöhnliches geschah. Am nächsten Morgen rief Alicia
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